Jenseits aller Pfade. Annette Kaiser

Jenseits aller Pfade - Annette Kaiser


Скачать книгу
aber noch Zeit.

      Auch der »Konflikt« zwischen Geist und Materie ist noch nicht gelöst. Die Erfahrung des Einsseins bedeutet, dass Geist und Materie nicht-zwei sind, dass Himmel und Erde nichtzwei sind.

      Wenn nun beides, Himmel und Erde, Geist und Materie, nicht-zwei, in Essenz Nichts-und-Alles ist, dann bedeutet das eine fundamental neue Orientierung – innen wie außen –, die den ganzen All-Tag umfasst. Im Kleinen beginnt es mit diesem Körper. Dann, wie ich mit den Pflanzen, den Tieren, den Menschen, der ganzen Welt umgehe. Es gibt nichts Unheiliges. Es gibt nichts Heiliges. Alles ist heilig. Es ist schwierig, hierfür eine Sprache zu finden, weil ich für etwas, das in einen Satz zusammengehört, zwei Sätze machen muss. Sprache vermag immer nur eine Seite auf einmal zu erfassen. Und wenn Himmel und Erde nicht-zwei sind, zeigt sich eine gewisse Sprachlosigkeit, man kann dann nur in Paradoxen sprechen.

      Jetzt ist es an der Zeit

       zu wissen,

       dass alles, was du tust,

       heilig ist.

      Jetzt ist es an der Zeit zu erkennen,

       dass alle deine Vorstellungen von

       richtig und falsch

       nur Stützräder waren,

       die beiseite gelegt werden müssen.

      Jetzt ist es für dich Zeit

       zu begreifen,

       dass es unmöglich

       etwas anderes geben kann

       als Gnade.

      Jetzt ist die richtige Jahreszeit,

       um zu erkennen,

       dass alles, was du tust,

       heilig ist.

      Hafis*

      Wir waren früh aufgestanden, hatten die Terrasse am Meer für uns allein. Zu dieser Jahreszeit waren auch nicht mehr viele Gäste da. Als ich im Sommer schon einmal mit meinem Mann auf Tilos gewesen war, war es voller und windiger gewesen. Ich hatte oft schlecht geschlafen.

      Jetzt war es windstill. Die freundliche ukrainische Bedienung mit den Heimwehschatten unter den Augen brachte unser Frühstück.

      Wieso wir wohl wieder nach Griechenland gefahren waren? Ging von hier nicht in alten Zeiten diese Spaltung von Geist und Materie, von männlich und weiblich aus? Unser gesamter Kulturkreis ist von ihr durchdrungen. Oder beruht unsere Kultur darauf? Wohin hat uns diese Trennung geführt?

      Während wir auf der Terrasse diskutierten, dabei Schafskäse und Honig genossen, sorgten die Wirtsleute dafür, dass unsere Zimmer aufgeräumt wurden, damit wir wieder nach drinnen gehen konnten. Sie waren sehr unterstützend, wollten, dass wir in Ruhe arbeiten konnten.

      Im Zimmer rückten wir dann Nachtisch und Stühle zur Seite, breiteten zwei Wolldecken auf dem Boden aus, stapelten die notwendigen Bücher um uns herum, gossen für jede ein Glas Wasser ein, und ich stellte das Tonbandgerät an.

      Eine Folge dieser Trennung von »Himmel« und »Erde«, von Geist und Materie ist, dass die Menschen das Geistige stark überhöht und nur in dieser Überhöhung angestrebt haben. So wurde die innere Sehnsucht der Menschen nach der Vereinigung mit dem Göttlichen oder nach der Erkenntnis Gottes als Drang so stark, dass die Welt als beschwerlich, als Hindernis, als Verführung angesehen wurde.

      Eine andere Folge wird im gegenteiligen Prozess deutlich: Man hat das geistige Prinzip als illusionär betrachtet und versucht, die Welt in den Griff zu bekommen. Wir kennen das zum Beispiel vom historischen Materialismus, bei dem nur noch die Materie im Vordergrund steht, oder auch von ökologischen Bewegungen, in denen man die Probleme auf einer rein materiellen oder organisatorischen Ebene zu lösen versucht.

      Beide Tendenzen finden wir historisch gesehen in unterschiedlichen Varianten, und sie hatten stets ihren enormen Preis, weil immer eine Seite mehr als die andere galt.

      Und jetzt geht es um ein Gleichgewicht. Es geht darum zu verstehen, was die Kräfte des Himmels und die Kräfte der Erde – wenn wir übergangsweise so sprechen – für das menschliche Dasein wirklich bedeuten.

      Dieses Geist-Prinzip und dieses Erd-Prinzip sind notwendig, um zu erkennen, was Erde ist und was sie vielleicht auch nicht ist, was der Himmel ist und was er vielleicht nicht ist. So kann sich eine weitere Dimension eröffnen. Wenn wir immer tiefer gehen, tiefer gehen, tiefer gehen – sowohl beim Erd-Prinzip als auch beim Himmels-Prinzip –, werden wir erkennen, dass beide nicht-zwei sind. Letztlich, wenn wir tief genug gefragt haben, erscheinen sowohl der Himmel als auch die Erde in diesem Bereich, wo sie nichts und alles zugleich sind.

      Das zeigt uns die Wissenschaft mit der Erforschung der Materie, das zeigt uns das Geist-Prinzip in der Erkenntnis der inneren Erfahrung. Jedes Ding verweist in letzter Konsequenz auf seinen Ursprung – das Nichts.

      Vermutlich hat uns die hier angesprochene Trennung sehr viel ermöglicht, die ganze technische Entwicklung zum Beispiel. Aber heute ist es an der Zeit, weiterzugehen. Jetzt beginnt uns diese Spaltung, diese Trennung von ich und du, zu bedrohen. Unsere ganze Welt ist bedroht – auf der relativen Ebene. Absolut gesehen ist die Bedrohung eine vollkommene Regung des Ewigen, eine Welle des Ozeans.

      Wenn wir den Kosmos anschauen – was ist dann eigentlich unsere Welt? Ein kleines Staubkorn am Himmel, und ob sie existiert oder nicht und ob das wichtig ist oder nicht, wie sollte ich das beurteilen? Unsere Galaxie ist eine unter Milliarden – vielleicht ist es ganz heilsam, diese Dimension im Auge zu behalten. Unsere Erde ist am Himmelsmeer ein so winziges Körnchen. Ein Staubpartikel, ein Sandkorn, ein Sternenkorn, das irgendwann einmal entstanden ist vor Milliarden von Jahren und wieder vergehen wird …

      Und auf der anderen Seite – wie wertvoll ist diese Erde, wie würde sie vor Kummer vergehen, wenn wir uns vernichteten …

      Eine Hummel hatte sich in unser Zimmer verirrt und rannte sich ständig den Kopf an der Wand oder der Balkontür an. Annette bat mich, das Tonbandgerät einen Moment abzuschalten. Sie stand auf, nahm eine Illustrierte und leitete damit das Tier behutsam nach draußen. Das dauerte eine Weile.

      Wir sprachen dann über die unterschiedlichsten Vorstellungen von Freiheit.

      Ich spreche von innerer Freiheit. Wir haben zum Teil sehr wilde Vorstellungen gehabt – oder haben sie immer noch –, was frei sein bedeutet. Manche Menschen verstehen unter Freisein, dass sie kein Geld verdienen müssen und damit zeitlich nicht gebunden sind. Da bedeutet frei sein dann ein Freisein von Arbeit. Oder man ist frei von der Familie, hat die familiären Verpflichtungen hinter sich gelassen, oder ist frei, sich so viele Partner zu nehmen, wie man will.

      Ich meine nicht diese Art von Freisein. Frei sein heißt, dass es nichts zu erreichen gibt, nichts zu tun gibt. Es hat nichts mit einer äußeren Situation zu tun, es gibt nichts zum Festhalten.

      In diesem Freisein lobpreist ES sich aus sich selbst heraus. Einfach in dem, wie sich das Leben in diesem Augenblick offenbart. Durch dich, durch mich, durch das Singen des Windes, durch das Rauschen des Meeres, durch das Essen einer Traube, wie auch immer. Das ist Freiheit, die einfach ist. Jeder Augenblick wird im Gewahrsein wie Nektar gekostet – jetzt.

      Und insofern kann man sagen, auf der relativen Ebene existieren eine Annette Kaiser, ein Peter, eine Elisabeth oder wer auch immer. Auf der absoluten Ebene nicht. Und so tanzt ES durch ES SEINEN Tanz. Das ist alles. Substanzlose Substanz. Und das ist wirklich so befreiend, wenn ich nichts mehr persönlich nehmen muss.

      Daraus ergibt sich ein grundsätzlich anderer Gesichtswinkel, der schon manchmal verrückt erscheinen kann! Wir ha ben zum Beispiel von Palästina und Israel gesprochen; ES sieht diese Bilder, nimmt wahr, was da geschieht, und hat großes Mitgefühl und Anteilnahme, und gleichzeitig ist es einfach Tanz, SEIN Tanz. Wie Farben, Formen, Konflikte, Reibung, Düfte entstehen und – vergehen. In allerletzter Instanz geschieht nichts, absolut nichts.

      Durch dieses »Sehen« entstehen Möglichkeiten, diese Schöpfung in einem neuen Geist zu gestalten. Wir probieren aus, experimentieren, der neuen Kultur einen Ausdruck zu geben. Ist der Mensch verankert


Скачать книгу