Jenseits aller Pfade. Annette Kaiser
nach Harmonie und Vollkommenheit strebt.
Wir haben dazu zum Beispiel die traditionellen spirituellen Wege, die meistens einen längeren Prozess beinhalten. In diesen Wegen wird der Mensch durch Meditation, durch Mantrasagen und Ähnliches geschult. Es geht um die Sammlung des Geistes und darum, leer zu werden. Das bedarf der Übung, und es müssen auch eigene Dinge – im Sinne der Schattenarbeit – angeschaut werden.
Alle Wege münden aber letztlich in den pfadlosen Pfad, in den weglosen Weg. So bleibt uns nach dieser ganzen Reise des Sich-Kennenlernens mit all ihren Schatten- und Lichtzeiten nur die Erkenntnis, dass auch das alles noch in den Bereich des Nichtwirklichen gehört. Dass wir auch das alles zurücklassen können. Wir lassen mit der Erkenntnis, dass wir in Essenz nichts sind, dass es nichts als das Nichts gibt, alles zurück, letztlich auch unseren Pfad.
Was uns dann noch bleibt ist dieser Moment. Es bleibt sonst nichts. Und dieser Moment ist das einzige Tor zur Ewigkeit.
Wenn ich mich an gestern erinnere, dann brauche ich das Jetzt der Erinnerung für gestern. Wenn ich mir Sorgen mache über die Zukunft, brauche ich das Jetzt, von dem aus ich die Sorgen in die Zukunft projiziere. Der Mensch lebt immer nur in diesem Augenblick So ist das Jetzt der Schlüssel, denn das Leben vollzieht sich immer nur in diesem Moment. Und der ist absolut neu, immer kreativ. Das Schöpferprinzip arbeitet durch das Jetzt – was zugleich Ewigkeit meint. Wenn der Mensch einen Moment innehält, ganz akzeptiert, was jetzt gerade ist, dann schwingt er in der Ewigkeit.
Und somit muss der Mensch, wenn er in dieses universelle Bewusstsein einschwingen möchte, gar nicht weit rennen. Er hat immer die Möglichkeit – wenn ihm zwanzig Jahre meditieren zu viel sind –, jetzt, gerade jetzt, wach im Hier und Jetzt zu sein. Ganz natürlich.
Ganz so einfach ist das aber wohl nicht, oder?
Natürlich nicht, da fällt man schnell wieder in die Gedanken hinein und vergisst das Jetzt. Aber für mich ist das so genial, dass eigentlich der Schlüssel, das Nadelöhr, ganz unmittelbar vor jedem Menschen liegt, er muss nicht nach Honolulu oder nach Afrika fahren. Nein, gerade dort, wo er ist, in diesem Augenblick ist ES.
Das ist gemeint mit den Worten: »Das Göttliche ist uns näher als die eigene Halsschlagader.« Wir sind das, wonach wir suchen. Und das ist ewig neu, absolut schöpferisch. Unglaublich, in jedem Augenblick! Das berührt mich zutiefst, weil sich darin offenbart, dass das Göttliche und der Mensch nicht-zwei sind. Darum sind wir göttliche Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen.
Guruji * hat gesagt, das Ziel jedes spirituellen Pfades sei es, in jedem Augenblick in SEINER Gegenwart zu sein. Manche müssen, dürfen, können einen spirituellen Weg durchschreiten, manche tun das nicht – wir alle sind Eins in diesem Jetzt. Jeder Augenblick – All-Tag. Das ist wirklich ein Wunder. Viele Menschen denken, dass Wunder etwas ganz anderes seien, aber die wirklichen Wunder vollziehen sich in jedem Augenblick. Wunder über Wunder.
Am Nachmittag liehen wir uns ein Auto. Ich gestehe es – neben der äußeren Schönheit der Insel hatte mich noch anderes hierher gezogen. Es waren auf dieser Insel große Mengen Knochen von Zwergelefanten ausgegraben worden. Die Vorstellung, dass hier noch bis vor 3000 Jahren Elefanten lebten, gefiel mir.
Man musste bei der Gemeindeverwaltung nach dem Schlüssel fragen und bekam dann die »Museums«-Führung gleich mitgeliefert. Wir betrachteten eingehend die ausgestellten Knöchelchen.
Dann folgten wir den Spuren der Ritter. Die Johanniter waren hier gewesen, und während ihrer Zeit wurde ein neues Dorf gegründet, Mikro Chorio, das »kleine Dorf«. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde es von seinen Bewohnern verlassen, verfiel und wurde jetzt Geisterstadt genannt. Die Kirche steht noch. Wir wanderten durch die Ruinen, auf ihnen, unter ihnen und konnten noch im Verfall genau die Bauweise der Häuser, die Anlage der Wege, Plätze und Gärten nachvollziehen. Es herrschte eine Atmosphäre besonderer Dichte.
Einige Häuser und ein paar Treppen und Wege waren in den letzten Jahren restauriert worden und in eine Bar mit großer, mehrstufiger Terrasse umfunktioniert worden. Als ich im Sommer auf Tilos gewesen war, kam ich einmal nachts hier her und staunte im Erleben der Musik, der Wärme, der von innen beleuchteten Ruinenhäuser, der weiten Terrasse mit dem Blick aufs Meer, wo in der Ferne die Kreuzfahrtschiffe still vorüber zogen …
Aber auch tagsüber hatte der Platz etwas. Er war friedlich, seltsam unberührt von der sonst leisen, inneren Unruhe der Insel.
Wir setzten uns ganz oben auf einen Mauerrest, freuten uns am weiten Blick und tauschten uns aus, worüber Annette am nächsten Morgen sprechen würde.
All das, was den Menschen zu sich selbst geführt hat und führt, braucht eine Würdigung. Der ganze Prozess hat bei mir mit vierzehn Jahren begonnen als Begegnung mit dem christlichen Glauben. Man könnte sagen, das ist wie ein erstes Element oder Holon. Ich würde gerne diesen Begriff »Holon« dafür verwenden, Holon, als Teil des Ganzen, vergleichbar auf dieser Ebene zum Beispiel mit einem Atom. Meine Suche ging anschließend weiter und nach vielem Hin und Her kam der innere Weg. Die katholische Kirche verkörperte mehr die äußere Lehre. Sie war für mich nicht das Fahrzeug zur Selbsterkenntnis und zur Gotteserkenntnis.
Das nächste Holon war der innere Weg, den ich durch Frau Tweedie erfahren durfte. Dieses Holon umfängt das andere. Vergleichbar mit dem Molekül, in dem das Atom enthalten ist. Mit der Erfahrung des Nichts-und-Alles ist ein weiteres Holon entstanden, eine weitere Einheit, die wiederum den inneren Weg in sich einschließt. Vergleichbar einem menschlichen Organ, das aus Molekülen und aus Atomen besteht. Das ist das holografische Prinzip.
Und somit ist alles enthalten, alles, was ich in der katholischen Kirche werden durfte, die Werkzeuge und die Erfahrungen des inneren Wegs, die Traumarbeit und nun auch, als nächstes Holon, das Präsentsein.
Es ist nicht einmal Präsentsein, es ist Menschsein. Das ist das Wort, das ich am liebsten verwende. Es ist nicht Mystikerin oder Mystiker. Es ist Menschsein, bewusstes Menschsein.
Nun muss man aber unterscheiden. Es gibt in diesem holografischen »Gebäude« eine gewisse Entwicklung, die darin besteht, dass sich mit jedem Schritt eine weitere Bewusstseinsebene auftut. Und wenn wir diese Wirklichkeit mit der Erfahrung des Nichts-und-Alles erleben, dann sind wir im bis heute weitest möglichen Bewusstsein eingeschwungen. Und da wird das Unterscheidungsvermögen wichtig – welches Bewusstsein auf welcher Ebene wirkt. Es ist nicht so, dass die katholische Kirche mit dem bewussten Menschsein gleichzusetzen wäre. Obwohl die kleinste Einheit »Atom« – wieder bildlich gesprochen – in allem enthalten ist. Das höhere Bewusstsein ist – nicht wertend, nur unterscheidend – höher einzustufen.
Unterscheidung findet statt, bedeutet aber nicht mehr Bewertung, weil der Ausdruck des ES in jeder Form, in jedem Schritt gesehen wird.
Das ist für mich ein Aspekt dieser neuen, nichtdualen Kultur. Weil sie Unterscheidungsvermögen hat, aber nicht beurteilen oder bewerten muss, sondern alles zu seiner Zeit, am richtigen Ort als vollkommenen Ausdruck des EINEN würdigen kann. Die Schritte können im Einzelnen getan werden, sind aber trotzdem eingeschwungen in etwas Größerem, das alle anderen Schritte enthält, aber in einer Abstufung.
Wir haben von unserem geschulten Denken her immer nur von A nach B, von B nach C und von C nach D gedacht. Mit diesem Modell ist es gar nicht möglich, holografisch zu denken, die Dinge an den richtigen Platz zu setzen und der Weite des Himmels und der Erde gerecht zu werden.
Wir brauchen heute Klarheit darüber, wo der Mensch wirklich in Freiheit ist. Wo dieser Schritt in den leeren Raum, in die Stille, in das Nichts, das alles meint, vollzogen wird. Weil das im Moment das weiteste Bewusstsein, das weiteste Holon ist. Ein naturwissenschaftlicher Begriff dafür ist »Nullfeld«.
Man spricht zum Beispiel vom Zenweg, vom Sufiweg, vom Kontemplationsweg – lauter verschiedene Wege. Es wird abgegrenzt und verglichen, was vielleicht auch seinen Sinn hat. Diese Wege aber führen letztlich alle – und das ist ja das Ziel dieser Wege – in das nächst höhere Holon, und da kann man dann nicht mehr vergleichen und abgrenzen. Es gibt die Verschiedenheit der Wege, dessen, wie wir herkommen, aber die Urerfahrung ist das All-Eine.
Ich beobachte, dass bis heute