Jenseits aller Pfade. Annette Kaiser

Jenseits aller Pfade - Annette Kaiser


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So viel wir auf der einen Seite auch – anscheinend – ergründen können, das Leben ist immer auch ein Geheimnis.

      Wir sind multidimensionale Wesen. Wir dürfen uns nicht durch innere Konzepte, Vorstellungen, Ideale, Loyalitäten be hindern, wenn sich das Bewusstsein weiter ausdehnen will. Natürlich muss man sehr genau hinschauen, ob Anhaftung im Spiel ist oder einfach ein Respekt, der frei lässt. Es sind verschiedene Aspekte, oszillierend manchmal. Und was ist, das ist, und das ist ganz in Ordnung. Das Würdigen, Respekthaben – diese neue Kultur kann das lassen, was ist. Und letztlich ist da niemand, der erfährt, sondern nur ES, das erfährt, und somit ist Erfahren. Es ist Sehen, Hören. Es ist dies oder jenes, es ist einfach Tanz. Wir müssen uns nicht abschotten oder ausgrenzen – ES ist enthalten in diesem großen Einen. Weil es ja nur dieses Eine gibt.

      Und auf der anderen Seite braucht es immer beide Achsen, das männliche, aktive Prinzip, das die Ausrichtung hält, und das weibliche Prinzip, das in diesem So-Sein offen und weit ist und das zulassen kann. Die optimale Balance dieser beiden Prinzipien ist nötig. Das spiegelt sich auch in der Urerfahrung von Nichts-Alles wider. Sprachlich ist das gar nicht in einem Punkt erfassbar, aber der Punkt ist.

      Und so geht es auch darum, diese verschiedenen Bewusstseinsanteile spielen zu lassen. Das Gewahrsein ist nicht passiv, sondern es ist eine große dynamische Kraft, die einfach ist. Und der Moment des IST ist immer einmalig im jetzigen Moment. Und in diesem IST dürfen alle Farbaspekte tanzen.

      Wenn sich dann die Erinnerung einhakt und meint, das ist so oder so, dann fallen wir aus dieser Dynamik, aus der Schöpfung, die in jedem Moment neu ist, heraus.

      Am Abend fand ein Fest statt. Schon den ganzen Tag ratterten auf dem Schotterweg hinter dem Haus die Mopeds und Lastwagen nach oben zur kleinen Kapelle, die sich an den Berg schmiegt und mit ihrem einigermaßen windgeschützten Vorplatz zum Aufs-Meer-Schauen einlädt.

      Auf der verlassenen Feldterrasse hinter der Kapelle – wo wir uns beim Spazierengehen sonst gerne mit frischen Feigen versorgten – waren die Grillstation, Stühle und eine Plattform für eine kleine Musikgruppe aufgebaut. Bestimmt die Hälfte der dreihundert Inselbewohner war schon angekommen, als wir nach dem Abendessen nach oben marschierten. Sie tanzten eine einfache Schrittfolge im Kreis. Zwischendurch trat einer der Tänzer, eine der Tänzerinnen nach vorne, bewegte sich in seltsamen Verrenkungen und gliederte sich danach wieder ein.

      Annette und ich lehnten an dem Begrenzungsmäuerchen des Feldes und sahen zu. Nach einer Weile meinte sie, dass wir uns jetzt langsam entscheiden müssten – entweder mitmachen oder gehen.

      In Anbetracht dessen, weshalb wir hier waren, entschieden wir uns fürs Gehen.

      Am Morgen fragte ich dann Annette, was genau sie eigentlich mit »normalem Menschsein« meine, von dem sie so viel spreche.

      Das normale Menschsein ist das, worum es geht. Um zu illustrieren, was ich meine, beschreibe ich einfach mal, wie ich heute morgen aufgestanden bin und was dann so gelaufen ist.

      Ich bin relativ früh aufgewacht, noch in der Nacht, es war so um fünf Uhr. In diesem Aufwachen wusste ich plötzlich, worüber wir beide an diesem Tag sprechen werden. Ich habe diese Intuition wahrgenommen.

      Dann schlüpfte ich wieder unter die Bettdecke und wollte weiterschlafen. Das ging aber nicht. Ich nahm das einfach wahr.

      Ich blieb noch eine Weile liegen und sah zum Fenster hinaus. Es war dunkel, die Sterne und der Mond standen noch am Himmel. Und dann hatte ich den Impuls, aufzustehen und rauszugehen. Ich nahm den Impuls wahr.

      Also bin ich aufgestanden und rausgegangen. Es war ein wunderschöner Morgen. Der Tag brach gerade an. Ein warmer Wind umhüllte mich sanft. Ich nahm diesen Wind wahr.

      Ich nahm mein Gehen wahr. Als ich zur Kapelle kam, wollte ich hineingehen, um zu meditieren. Sie war zu. Die Kapelle war zu. Ich nahm es wahr.

      So, dachte ich, dann setze ich mich vorne hin. Da war aber zu viel Wind. Ich stand auf und setzte mich an einen anderen Platz. Und dort blieb ich für eine Zeit und nahm wahr.

      Als ich zu meditieren begann, merkte ich, dass Gedanken kamen. Die Dinge, die mir in der Nacht eingegeben worden waren, arbeiteten in mir. So nahm ich wahr: Diese Gedanken arbeiten in mir.

      Vielleicht gehe ich einfach nur spazieren, dachte ich. Und so stieg ich weiter den Berg hoch. Ich wollte noch diesen wilden Salbei pflücken, weil ich den Geruch so gerne mag. Also ging ich auf dem Weg weiter. Was kam da? Der Duft von Ziegen. Gestern und vorgestern waren die Ziegendüfte ziemlich intensiv gewesen, und ich merkte, wie in mir bei diesen Düften eine gewisse Aggression hochstieg. Ich mag sie nicht so gerne, weil sie so scharf und dominant sind. Da nahm ich wahr, dass ich sie nicht so mag, dass sie mir nicht so passen.

      Ich wandte mich innerlich nicht ab von der Wahrnehmung dieser aggressiven Düfte der Ziegen, die da rumhüpften, sondern es blieb einfach dieser Duft. Und plötzlich musste ich lachen – ja, auch dieser Ziegenduft ist einfach da.

      So pflückte ich dann den Salbei, ging zurück ans Meer, machte meine Tai-Ji-Übungen, schwamm noch einmal und duschte mich anschließend. Und in all dem war einfach Gewahrsein. Das, was ist, ist.

      Oft stehen die Menschen am Morgen auf, gehen arbeiten und meistens ist ihnen gar nicht bewusst, was sie im Einzelnen tun. Wir essen, aber lesen vielleicht die Zeitung dabei, oder wir essen, und der ganze Tag spult sich schon in uns ab. Normalsein bedeutet, dass bei all dem, was von Innen oder von Außen kommt, bei dem wir aufgefordert sind, etwas zu tun oder zu lassen, ein Gewahrsein dessen ist, was unmittelbar stattfindet, ein Präsentsein im Augenblick.

      Wenn ich sage: Ich nehme wahr, dann stimmt das auch nicht ganz, weil ich dann von etwas Getrenntem ausgehe – also ich esse und die Beobachterin sieht, dass dieser Körperorganismus isst. Wenn das Beobachtete und die Beobachterin eins sind, dann ist es einfach Essen. Es ist Den-Wind-Fühlen. Es ist Sehen oder Ziegenduft-Riechen. Es ist einfach Gewahr-Sein, es ist nicht getrennt, es ist im Sein enthalten.

      Wir meinen sehr häufig, eine Mystikerin tue bestimmte Dinge in bestimmter Weise. Sie steht im Morgengrauen auf, um zu beten – ich überzeichne jetzt ein bisschen –, dann nimmt sie ein karges Frühstück zu sich und so weiter. Wir ha ben in unserer Kultur solche tief eingeprägten – wohl kollektiv bedingten – Vorstellungen. Es geht aber nicht primär darum, bestimmte Dinge zu tun. Primär geht es um ein Präsentsein in dem, was ist. Es kann sein, dass ich am Morgen Staubsaugen muss, weil die Wohnung schmutzig ist. Es kann sein, dass ich spazieren gehe, wie das heute Morgen der Fall war – da gibt es keine Wertung von besser oder schlechter.

      Unter «normal« verstehe ich, dass sich jede Handlung im Alltag ganz natürlich entfalten kann. Jede Handlung, alles, was zu unserem Menschsein dazu gehört. Jede Handlung im Gewahrsein strebt in sich selbst oder aus sich selbst heraus nach Schönheit, nach Vollkommenheit. So wie es die Qualität des Wassers ist, nass zu sein, so ist die Qualität des Menschseins Bewusstheit, die sich ausdrückt durch Präsentsein im Alltäglichen.

      Das ist auch gar nichts Neues. Es gibt diesen bekannten Ausspruch eines Zenmeisters: »Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich schlafe, schlafe ich. Wenn ich lese, lese ich.« Das ist eigentlich dieses »Normal«. Was wir zu tun haben, tun wir, was wir nicht zu tun haben, lassen wir, das ist ganz einfach.

      Wir müssen dem allerdings noch eine andere Achse hinzufügen, denn es könnte ja einer meinen, wenn er den Impuls verspüre, jemand anderen zu bestehlen, dann sei das eben sein Impuls, Derartiges zu tun.

      Und es gibt diese Ebene, auf der dieser Mensch jemanden bestiehlt. Aber es gibt aus dem universellen Bewusstsein heraus noch eine andere Ebene des Verstehens, die besagt: Wenn der andere Mensch und ich nicht-zwei sind, dann bestehle ich mich selbst. Das ist nicht moralisch zu sehen. Aber was wäre dann der Sinn des Stehlens?

      Ich selber habe die Neigung zu stehlen nicht, und ich weiß nicht, wie es ist, wenn jemand diese Neigung hat und diesen Prozess durchlebt hat, ob das dann einfach abfällt. Aber ich habe mich mit meinen eigenen Neigungen beobachtet. Zum einen ist es so, dass ein Großteil wirklich verblasst, einige Neigungen aber bleiben hartnäckig, und ich lote gerade aus, ob diese schlicht zum Charakter, zur Alchemie gehören als Ausdruck der Farbe, des Spiels,


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