Jenseits aller Pfade. Annette Kaiser
ES auf und ES kommen die Gedanken, die Ideen oder Impulse, ES geht spazieren, ES nimmt diesen Duft auf, ES sieht diesen Sonnenaufgang. Mit erweitertem Bewusstsein, mit universellem Bewusstsein ist gemeint, dass da niemand ist. Das ist bewusstes, normales Menschsein.
Es kann aber durchaus sein, dass in der einen oder anderen Situation etwas in einem hadert. Dann hadert ES. Es ist, wie es ist. Mit dem Gestank der Ziegen, da haderte ES. Das hat mit meiner inneren Alchemie zu tun. Aber ich bin darin nicht gefangen. Es ist, wie wenn ein Ball gegen die Wand prallt und sofort wieder zurückkommt. Etwas nimmt wahr, aha, das mag ich nicht.
Es hadert, aber es hakt sich nicht ein. Die Bewegung bleibt.
Weißt du, es ist wichtig, dass ich mit dem, was ich über diese beiden Morgenstunden gesagt habe, nicht ein neues Bild kreiere von Gewahrsein, Gewahrsein, Gewahrsein. Oder ich esse und esse, schlafe und schlafe. Das ist natürlich nicht immer.
Eines Tages sah ein Zen-Schüler Meister
Seung Sahn frühstücken und dabei
gleichzeitig Zeitung lesen. Das machte
ihm schwer zu schaffen, denn in den
Zen-Unterweisungen heißt es:
»Wenn du liest, dann lies nur.
Wenn du isst, dann iss nur.«
Er fragte Seung Sahn, warum er sich nicht
an diese Unterweisung halte, worauf
dieser erwiderte: »Wenn du isst und
liest, dann iss und lies nur!«*
Ich bin nicht gefeit davor, dass plötzlich das Ich wieder hineinkommt und anhaftet. Es ist nicht so, dass das Gewahrsein absolut ungetrübt ist, es können extreme Situationen eintreten, in denen das Ich wieder einhakt. Macht nichts – man nimmt es dann wahr, und damit ist es auch bereits wieder losgelassen. Wir können jederzeit – was immer auch ist – wieder in dieses Präsentsein einschwingen. Es spielt keine Rolle. Was ist, ist.
Annette saß schon am Tisch, als ich am Morgen auf die Terrasse kam, Paro, den Papagei mit einer Weintraube fütterte und quer über die Tische von meinen Schwimmereien im Morgenzauber erzählte.
Anna, ich muss dir etwas sagen, begann sie.
Also hörte ich zu.
Sie könne hier nicht wirklich tief meditieren, etwas sei unruhig und wenn es einen Ort gäbe, wo sie sich vorstellen könne, dass wir besser arbeiten könnten, so wäre das auf der Insel Kos.
Als wir vor fünf Tagen auf Kos gelandet waren, hatten wir noch einen Tag Zwischenaufenthalt, bis unser Schiff nach Tilos ablegte. An diesem Tag besuchten wir das Asklepieion, jenes antike Heiligtum, in dem auch Hippokrates gewirkt haben und sein berühmter Eid entstanden sein soll.
Es ist eine weitläufige Anlage, die über drei Anhöhen geht, teils mit erhaltenen Tempeln und Tempelresten, teils mit restaurierten Gebäudeteilen. Die dritte Anhöhe, auf der die Spuren des großen Tempels des Äskulap und der Hygieia stehen, mündet in eine Hügelkuppe, den heiligen Hain, der unbebaut ist und den gesamten Tempelbezirk umgibt. Nur Kiefernwald und großer Frieden.
Von den Tempelanhöhen hat man einen grandiosen Blick übers Meer hinüber nach Kleinasien; wir fühlten uns geweitet, inspiriert und waren sicher, dass die Menschen, die in dieser Anlage gewirkt haben, in tiefer Verbundenheit mit sich, ihren Patienten, dem Göttlichen und den Menschen dort drüben auf der anderen Seite des Meeres gestanden haben.
Wir kannten beide eine Schweizerin, die ein tief greifendes Buch über die spirituellen Wurzeln des Hippokratischen Eides geschrieben hat. Aus irgendeinem Grund hatte ich sie vor unserer Reise gebeten, mir doch die Adresse ihres Quartiers auf Kos mitzugeben. Diese Telefonnummer hatte ich also in der Tasche.
Es war kein Bedauern, es war einfach der nächste Schritt.
Wir klärten unsere Angelegenheiten mit unseren Gastgebern und bestiegen am frühen Nachmittag das Schiff zurück nach Kos.
Dort war alles nicht so schön, nicht so einsam, nicht so unberührt. Aber von der Kraft der Insel her war alles weit und von Inspiration getragen.
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