LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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gebracht, da begann es zu hageln. Zum Glück hielt der Schauer nicht lange an. Anderenfalls hätte Enno wieder hinunterfahren und das Boot abdecken müssen.

      Auf dem Weg nach oben versuchte er, die Gebäude in der näheren Umgebung auszumachen. Als Erstes entdeckte er Warners Leuchtturm. Kurz darauf waren die oberen Stockwerke des Hochhauses zu sehen, in denen er sich selbst vor zwei Jahren eingerichtet hatte. Auf halber Höhe meinte er, das Hotel Fährhaus, in dem Kalli, Monika und ihr Bruder lebten, und das Dach der Ludgerikirche zu erkennen, die das Heaven beherbergte. Doch er war nicht sicher. Die Gebäude waren zehn, fünfzehn Kilometer entfernt – nicht mehr als verwaschene Kleckse, die sich kaum vom Graublau des Wassers und des Himmels abhoben.

      Bevor er den Einstieg erreichte, richtete er den Blick in die Ferne. Das Festland lag hinter dem Horizont. Obwohl er es besser hätte wissen müssen, enttäuschte es ihn jedes Mal, dass die Küste selbst aus dieser Höhe nicht zu sehen war.

      Vor drei Jahren stand hier noch ein Deich, vergegenwärtigte er sich. Die Inseln waren längst überflutet gewesen, aber er hätte hinter den mit Stahl und Beton bewehrten Schutzwällen zumindest ein paar Häuser, Bäume und Felder im Blick gehabt. Stattdessen Wasser, so weit das Auge reichte.

      Der Anschlag hatte alles verändert.

      Enno kannte die Fakten. Er hatte sich jahrelang mit dem Terrorangriff und seinen Auswirkungen beschäftigt.

      Am Abend des neunzehnten Dezember 2055 um kurz nach acht hatten die Redaktionen mehrerer Nachrichtenkanäle die Mitteilung erhalten, dass in achtundvierzig Stunden ein Anschlag auf die Deiche an der Nordseeküste verübt werden würde. Die Ankündigung stammte von einer Gruppe, die sich »Der Rechte Weg« nannte. Niemand hatte je zuvor von ihr gehört. Es gab jedoch gute Gründe, die Drohung ernst zu nehmen. Stil und Wortwahl ließen vermuten, dass es sich um militante Islamisten handelte. Die arabische Welt, in der seit Jahrzehnten Krieg und Chaos herrschte, brachte alle paar Monate eine radikale Gruppierung hervor, die mit politisch oder religiös motivierten Anschlägen von sich reden machte.

      Knapp sechzehn Stunden später, am Mittag des zwanzigsten Dezember, detonierten sechs der ursprünglich zwölf Sprengsätze – die anderen hatte man gefunden und entschärft. Sie rissen klaffende Löcher in die Deiche zwischen Den Haag und Hamburg. Weil die Evakuierung noch nicht abgeschlossen war, löschte die Flutwelle, die alle tiefer gelegenen Landesteile überrollte, innerhalb einer Stunde ein Drittel der Einwohner der Niederlande aus. In Deutschland tötete sie weitere zwei Millionen Menschen. Das Wasser überschwemmte den Norden Niedersachsens, den Stadtstaat Bremen und große Teile Hamburgs. Als es zum Stehen kam, hatte Deutschland eine neue Küstenlinie, die sich von Meppen im Westen bis nach Lüneburg im Osten erstreckte.

      Der Terroranschlag war der schwerste und folgenreichste, der Europa je getroffen hatte. Er beschäftigte die Medien bis heute. Dokus und Expertenrunden kauten jedes Detail wieder und wieder. Bis auf die Täter, deren Identität niemals zweifelsfrei geklärt werden konnte, gab es vermutlich nichts, das der Öffentlichkeit verborgen geblieben war.

      Die ersten Bilder der Flutkatastrophe stammten von den Drohnen der großen Sendeanstalten. Enno hatte sie ein paar Minuten nach den Explosionen empfangen. Er saß zu diesem Zeitpunkt mit seiner Mutter und rund zwanzig anderen Menschen im Glockenturm in Jever und wartete auf Rettung.

      Seitdem hatte er keine Doku über den Anschlag, die Hintergründe und die Folgen verpasst. Eine Zeit lang hatte er jede freie Minute damit verbracht, sich die Clips anzusehen, die von den Betroffenen während der Flutkatastrophe aufgenommen und ins Netz gestellt worden waren. Es war ein Kaleidoskop des Grauens.

      »Vielleicht tu ich mir das an, weil ich mich schuldig fühle«, hatte er Hose einmal erklärt. »Meine Mutter, ein junges Paar aus der Nachbarschaft, ein Freund aus Bremen, vier Arbeitskollegen … So viele Tote! Und man selbst kommt mehr oder weniger durch Zufall davon. Schon komisch, dass man deswegen Schuld empfindet, oder? Weil es einem besser ergangen ist als den anderen.«

      Enno verdrängte die Gedanken an den Anschlag und konzentrierte sich auf die Arbeit. Der PUC bot ihm Zugriff auf alle Diagnosetools, die er brauchte. Dennoch fand er den Fehler erst nach einer halben Stunde: Schmutz im Stecker eines der Glasfaserkabel im Verteiler. Darum empfing die Leitstelle in Achim keine Daten mehr über Temperatur, Luftfeuchtigkeit und andere Umweltbedingungen in der Gondel. Enno ärgerte sich, dass er die Anschlüsse nicht früher überprüft hatte. Wegen des Abriebs war Staub in den Gondeln ein ständiges Problem – und das vorgeschriebene Wartungsintervall für die Steckverbindungen viel zu lang.

      Nachdem er die Endflächen der Glasfasern gereinigt hatte, funktionierte die Übertragung wieder. Er schloss den Verteiler ab, loggte sich in das Wartungsprotokoll ein und hinterließ einen Vermerk. Anschließend zog er sein Ölzeug an und machte sich mithilfe der Winde auf den Weg nach unten.

      Seit seiner Ankunft war eine knappe Stunde vergangen. Die Temperatur war auf siebenundzwanzig Grad gestiegen. Der Tag würde wieder heiß werden. Es war jedoch nicht die Hitze, die Enno beunruhigte, sondern das aufziehende Unwetter. Während er in Nummer 12 beschäftigt gewesen war, hatte der Wind eine Geschwindigkeit von achtundvierzig Knoten erreicht. Die vorübertreibenden Schaumstreifen waren so dicht, dass man die Rotorblätter von Golden Blades 6, des nächstliegenden Windparks, nicht mehr erkennen konnte. Der Sturm hatte das Meer zu mächtigen Wellenbergen anschwellen lassen, die in hohem Tempo durch die Türme walzten. Das Motorboot hob und senkte sich mit jeder Woge um mehrere Meter. Zwischen den Kämmen warf es sich an der Leine hin und her wie ein gefangenes wildes Tier.

      Während er den Lasthaken hinauf schickte, überlegte Enno, ob er das Unwetter nicht besser in der Gondel aussitzen sollte. Für den Fall, dass widrige Umstände einen Techniker zu einem längeren Aufenthalt zwangen, gab es dort Wasser, Essensrationen und sogar ein Notbett. Die Zeit könnte er sich mit PUC Video vertreiben. Er entschied sich anders. In den Gondeln konnte es sehr warm und stickig werden. Dagegen ließ es sich zu Hause, in den schattigen Räumen direkt über dem Wasser, an heißen Tagen gut aushalten. Sturm hin oder her.

      Von einer Böe getrieben, taumelte er auf den Ring zu, an dem er festgemacht hatte, und ließ sich auf die Knie nieder, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Er öffnete den Roringstek und zog das bockende Boot näher zu sich heran. Enno schmunzelte über sich selbst, weil er so unvernünftig war, sich bei diesem Wetter wieder aufs Wasser hinaus zu wagen.

      Da riss ihn ein heftiger Ruck von der Plattform herunter. Er fiel vier oder fünf Meter und landete kopfüber im Boot. Noch bevor er den Schmerz richtig wahrnehmen konnte, verlor er das Bewusstsein.

      Als er die Augen aufschlug, war er desorientiert. Er fand er sich auf dem Rücken im Wartungsboot liegend wieder. Ein Bein hing über die Backbordseite nach draußen und fühlte sich nass an.

      Er erinnerte sich an das Unwetter und den Sturz. Der Sturm hatte sich gelegt. Das Tosen der Wellen war einem Plätschern gewichen, und das Boot schaukelte sanft. Die Sonne brannte ihm ins Gesicht. Soweit er das aus seiner Position überblicken konnte, war am Himmel keine Wolke mehr zu sehen.

      Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen, dachte er, als er das Bein ins Trockene zog. Bei der Bewegung durchzuckte seinen Kopf ein stechender Schmerz – schlimmer als der von heute früh. Enno betastete die Stirn und spürte eine Schwellung. Als er die Hand zurückzog, klebte Blut an den Fingern.

      Als Nächstes fiel ihm auf, dass er sich nicht mehr in der Nähe des Windparks befinden konnte. Das stetige Rauschen, das die Rotorblätter erzeugten, war verschwunden. Enno wollte sich aufrichten, um festzustellen, wie weit die Strömung ihn abgetrieben hatte. Dabei wurde ihm schwarz vor Augen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, und blinzelte ein paarmal. Es gelang ihm aber nicht, den Oberkörper zu heben. Der Himmel und die Sonnenscheibe über ihm begannen zu flimmern, die Welt um ihn herum geriet ins Wanken. Für einen Moment meinte er, ein Haus vorbeischweben zu sehen. Es hatte eine weiß lackierte Holzfassade mit zwei in der Sonne aufblitzenden Fenstern und grünen Fensterläden. Davor stand eine silberne Regentonne.

      Ein fliegendes Haus? Er konnte das Rätsel nicht mehr klären, weil er erneut ohnmächtig wurde.


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