LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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ein Glas, das zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Daneben lag ein Streifen Tabletten. Als Enno den Arm hob, um sich an die pochende Stirn zu fassen, spürte er in Höhe des Ellenbogens einen Widerstand. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er unter einer Decke lag. Mit den Fingern ertastete er Mull und Pflaster. Offenbar hatte jemand die Kopfwunde versorgt.

      Er schloss die Augen und horchte in sich hinein. Ihm war schwindelig, doch es ging ihm besser als vorhin. Die Schmerzen waren noch da, hatten aber ihren Stachel verloren.

      Sein nächster Blick traf den Rucksack mit dem Werkzeug und den Ersatzteilen. Er stand auf der anderen Seite des Raumes, an ein Regal gelehnt, das vollgestopft war mit Büchern. Das Ölzeug hing auf einem Haken an der Seite eines Schrankes. Zwischen den Möbelstücken befand sich eine blau lackierte Tür. Linkerhand gab es einen Tisch und zwei Holzstühle. Die rechte Wand war von zwei Fensternischen unterbrochen. Dazwischen stand ein Klimagerät. Von der Decke baumelte eine Lampe. Sie pendelte in einem unregelmäßigen Rhythmus vor und zurück.

      Bevor Enno die Bewegung der Lampe mit seinem Schwindel in Beziehung setzen konnte, vernahm er zur Linken Geräusche: das Streichen von Stoff auf Stoff und ein leises Schmatzen.

      »Schön, dass Sie wieder wach sind«, erklang eine männliche Stimme. Als er sich umdrehen wollte, sagte sie: »Bewegen Sie sich lieber nicht. Sie haben viel Blut verloren, vielleicht eine Gehirnerschütterung, was weiß ich. Sie sollten liegen bleiben, bis Sie wieder bei Kräften sind.«

      Von der Kopfseite des Sofas her schob sich ein Gesicht in Ennos Blickfeld, mit Falten und Altersflecken übersät, von weißem Haupt- und Barthaar eingerahmt, darin zusammengekniffene Augen. Es verzog sich zu einem Lächeln, beinahe gequält, als bereitete die Änderung der Mimik dem alten Mann Schmerzen.

      »Wie lange sitzen Sie da schon?«, fragte Enno.

      Die großen Ohren des Alten bewegten sich ein wenig nach oben und wieder zurück, bevor er antwortete: »Keine Ahnung. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«

      »Waren Sie das? Der Verband?«, wollte Enno wissen.

      Der Mann nickte.

      »Danke. Wissen Sie, wo mein Boot ist?«

      Sein Gegenüber nickte weiter. »Liegt draußen im Garten.«

      Die Antwort brachte Enno auf seine wichtigste Frage: »Wo bin ich hier überhaupt gelandet?« Er musste davon ausgehen, dass er weit nach Osten abgetrieben und von dem Fremden an irgendeiner Küste aufgelesen worden war.

      Das Gesicht des Mannes verschwand. Dann kam er um den Tisch herum, schob das Glas zur Seite und ließ sich Enno gegenüber auf der Platte nieder. Er beugte sich seufzend vor und stützte seinen Oberkörper mit den Unterarmen auf den Knien ab.

      »Ich habe Sie in der Nähe der Windräder rausgefischt«, antwortete er. »Ich weiß ja nicht, wo Sie wohnen. Darum bin ich hier erst mal vor Anker gegangen.«

      Enno brauchte eine Weile, bevor er die Aussage verarbeitet hatte. Konnte es sein, dass sie noch auf See waren?, fragte er sich. Vor seinem geistigen Auge sah er das Bild eines fliegenden Hauses an sich vorüberziehen. Er erinnerte sich deutlich an eine Regentonne.

      »Ist das hier ein Schiff?«, erkundigte er sich.

      Die Augen des Alten blitzten amüsiert auf. Er schüttelte den Kopf. »Ein schwimmendes Haus. Eine Art Hausboot.«

      »Und Sie haben einen Garten«, wiederholte Enno, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.

      »Ein Gewächshaus, ein paar Blumentöpfe, so etwas. Ich nenne es gerne meinen ›Garten‹.«

      Die Vorstellung, dass es mitten in der Nordsee, wenige Meter entfernt, frisches Obst oder Gemüse geben sollte, faszinierte Enno. Vom Sofa aus konnte er leider nicht aus dem Fenster sehen.

      Er besann sich seiner Manieren. »Mein Name ist Osterkamp. Ich arbeite für die Golden Blades Corporation als Wartungstechniker.« Er streckte seinem Gastgeber die Hand so weit entgegen, wie es ihm auf dem Rücken liegend möglich war.

      Der Alte nahm sie und drückte sie fest. Er hatte offenbar nicht vor, sich seinerseits vorzustellen. Stattdessen stand er auf und bot Enno an, ihn nach Hause zu bringen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich in Ihr Boot und nehme mein Haus in Schlepp. Ich hab nämlich kaum noch Strom«, erklärte er.

      »Keine Einwände«, sagte Enno. Zwar irritierte ihn die Eile des Mannes, aber er akzeptierte sie. Er nannte ihm die Koordinaten des Hochhauses.

      Enno war erstaunt zu hören, dass sein Gastgeber keinen PUC besaß. Dadurch war er gezwungen, ihm Lage und Aussehen des Gebäudes zu beschreiben: »Acht Kilometer westlich vom Leuchtturm, da kucken ein paar Stockwerke aus dem Wasser. Oben drauf ein Flachdach, Antennen, eine Solaranlage und ein gelbes Sonnensegel.«

      »Ich hatte angenommen, Sie wären von der Plattform gekommen.«

      Die Erwähnung der Offshore-Plattform erinnerte Enno daran, wie er während einer Trainingsmaßnahme einmal mit einer Achtzig-Prozent-Kollegin ins Gespräch gekommen war. Diese hatte ihm ein anschauliches Bild vermittelt, was es bedeutete, auf einer Versorgungs- und Umspannungsplattform zu wohnen. GBC versorgte die Monteure und Techniker, die mit Fixkontrakt arbeiteten, mit hochwertigen Lebensmitteln, hin und wieder sogar mit echtem Fleisch. Das hatte für ihn verlockend geklungen. Auf der anderen Seite gab es dort ausschließlich Sammelunterkünfte. Diese waren eng, und der Mangel an Privatsphäre machte den Frauen und Männern vor Ort zu schaffen.

      »Ich hab einen Flexkontrakt, sechzig Prozent, keine Präsenzpflicht«, erklärte er sein Arbeitsverhältnis. »Das Leben auf so einer Plattform wär auch nichts für mich.«

      Was dann geschah, war seltsam. Eben hatte der alte Mann ihm noch aufmerksam zugehört, da wurden seine Augen glasig. Seine Schultern rutschten nach vorne, und er erstarrte.

      Enno wartete darauf, dass er aufsah und etwas sagte – dass er irgendetwas tat. Er sprach ihn laut an. Er winkte sogar, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Als all das zu keinem Ergebnis führte, wurde er unruhig. Nach weiteren zwei oder drei Minuten aktivierte er den PUC, um sich über Telemed mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verbinden zu lassen. Doch das Gerät reagierte weder auf Sprach- noch auf manuelle Befehle. Kaputt?, wunderte Enno sich. Eigentlich hätte es nicht nur wasserdicht, sondern auch schlagfest sein sollen.

      Da hob der Alte den Kopf. Sein Blick war wieder klar. Er stand auf und machte sich, als sei nichts geschehen, auf den Weg zur Tür. Vermutlich wollte er das Wartungsboot wie geplant zu Wasser lassen.

      Enno atmete hörbar aus. »Sie haben mich ganz schön erschreckt«, rief er dem Mann hinterher.

      Dieser hielt inne und wandte sich zu seinem Gast um. Sein Gesicht war ernst. Mehr als ein kurzes Brummen, mit dem er Verständnis für Ennos Reaktion signalisierte, war ihm nicht zu entlocken.

      Durch den Sturz hatte Enno eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen. Laut Telearzt sollte er im Bett bleiben und Tabletten schlucken. Eine Drohne brachte ihm das Medikament.

      Es war vor allem Hose, der sich um ihn kümmerte, bis es ihm besser ging. »Schön, dich wieder öfter zu sehen«, sagte der schlaksige Mann. »Du hast dich echt lang genug von uns abgekapselt.« Mit »uns« meinte er sich und seine Freundin Kirstin, die sie kurz »Tine« nannten. Die beiden wohnten auf einem Schiffswrack neben der Kirche, knapp fünf Kilometer vom Hochhaus entfernt.

      Enno musste zugeben, dass er es ebenfalls schön fand, ein vertrautes Gesicht um sich zu haben. Wenn Hose in der Küche Wasser aufsetzte – »Eerstmaal en Köppke Tee« –, sich zu ihm ans Bett setzte und sie über Bekannte tratschten, war es wie früher.

      Und als Enno eines Abends auf seine Mutter zu sprechen kam und ihm die Stimme versagte, legte ihm Hose einen Arm um die Schultern, hielt ihn fest und sagte: »Ich weiß, wie sich das anfühlt. Dat kummt sachts all up Stee«. Enno glaubte nicht, dass jemals alles wieder in Ordnung kommen würde. Trotzdem empfand er Hoses Worte als tröstlich.


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