LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


Скачать книгу
gemacht und dabei zugesehen, wie Enno und Hose den Holzkohlegrill anfeuerten. Seitdem hatte er noch keinen Ton gesagt. Jetzt musterte er die rostrot leuchtenden Mobilfunkantennen über ihren Köpfen, als sähe er sie zum ersten Mal.

      »Diese Kontraste!«, rief er aus.

      »Piet hat mal wieder eine Eingebung«, lachte Warner.

      »Ich finds immer ganz vergnüglich, wenn dein geheimnisvoller Nachbar den Mund aufmacht«, hatte Hose vor Kurzem gesagt.

      Enno hatte seinen Freund skeptisch gemustert. »Leider hält er dann gerne lange Monologe.« Wobei Enno zugeben musste, dass er von Geschichte, Politik und Wirtschaft – Piets bevorzugten Themen – nicht annähernd so viel Ahnung hatte wie der alte Mann. »Eigentlich sind seine Storys ja ganz spannend«, hatte er eingeräumt. Im Laufe der zwei Jahre, die er Piet inzwischen kannte, hatten sich dessen Äußerungen zu einem Bild verdichtet, das auf einen klugen Menschen schließen ließ, der ein reiches Leben gelebt hatte.

      »Also, ich trau deinem ›Piet‹ nicht über den Weg«, pflegte Warner zu sagen. Er ärgerte sich, dass er über einen Namenlosen im Netz keine Nachforschungen anstellen konnte. Dafür, dass der Alte keinen Communicator trug, gab es in den Augen des Hackers ja noch die eine oder andere Erklärung: »Kann sein, kaputt oder verloren. Oder er hat in seiner Bude ’nen Schlepptop. Haben viele Urnenanwärter.« Allerdings konnte er auf dem Dach des schwimmenden Hauses keine Antenne entdecken. Dass es drinnen nicht möglich war, mit dem PUC eine Verbindung aufzubauen, schürte Warners Misstrauen nur: »Klingt nach Abschirmung«, sagte er.

      »Kannst du nicht mal fragen, ob das Hausboot seins ist? Und wann er’s gekauft hat?«, hatte er sich vor ein paar Wochen bei Enno erkundigt. »Hersteller und Typ hab ich. Ich brauch aber mehr Info, um zu recherchieren, wer er ist – falls der Server mit den Verkaufsdaten nicht abgesoffen ist.«

      Enno hatte geschmunzelt und den Kopf geschüttelt. »Du bist echt paranoid.«

      Warners Reaktion war ein Achselzucken gewesen. »Das ist kein Nein«, hatte er festgestellt, ohne eine Miene zu verziehen. Mit dieser Sache war es ihm ernst.

      Ein anderes Mal hatte er ihnen eröffnet: »Ich bin sicher, dass der Alte was mit Verteidigung zu tun hatte, also ESDO oder früher NATO. Was der manchmal so von sich gibt, die ganzen Details über Afghanistan, Irak, Mali und Libyen … Das sind alles Konflikte, an denen wir beteiligt waren. Und er wahrscheinlich auch.« Enno war skeptisch gewesen, aber Warner hatte nicht lockergelassen: »Das würde erklären, warum er nie was Konkretes über sich erzählt. Geheimhaltung und so. Was ich nicht versteh: Die Scheiße ist ewig her. Kann doch nicht sein, dass er so alt ist, oder?«

      Enno hatte darauf keine Antworten. Ohnehin machte ihm sein Nachbar andere Sorgen. Piets Anfälle traten in letzter Zeit häufiger auf, und es kam vor, dass er über Stunden teilnahmslos vor sich hin starrte. So wie heute. Darum wartete Enno gespannt darauf, ob der Alte seinen Gedanken weiter ausführen würde.

      »Die Gegenstände wirken so plastisch, wenn das Licht sie von der Seite trifft«, fuhr Piet fort. »Die Antennen erinnern mich ans Dünengras auf den Inseln, als es hier noch Inseln gab. Als junger Mann war ich mal mit einer Freundin auf Langeoog. Die harten Kontraste, die die Abendsonne auf jeden Halm zauberte – eine Seite leuchtend hell, die andere in tiefem Schatten –, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.«

      »Erzähl mehr von deiner Freundin«, feixte Warner.

      Piet senkte den Kopf und verfiel wieder in Schweigen. Er wirkte weder beschämt noch verärgert, fand Enno, vielmehr ergriffen von den Eindrücken, die in seiner Erinnerung aufgeflackert waren.

      Warner biss ein großes Stück Wurst ab. »Hastndenher?«

      Diese Frage bezog sich auf den Grill und richtete sich an Enno. Also erzählte er, wie er das Gerät vorgestern bei Ebbe in einem Abstellraum auf dem Dachgarten des Nachbargebäudes gefunden hatte – und darunter einen Sack Kohle.

      »Total oldschool«, meinte Warner.

      »Aber schön«, freute sich Hose. Er zog ein Bier aus dem Sixpack, öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck. »Ich bin froh, dass du uns eingeladen hast. Ob ihrs glaubt oder nicht: Das ist mein erstes Grillfest seit Jahren.«

      Als Tine gegen halb neun zu ihnen stieß, wurde sie von einer Drohne eskortiert. »Die klebt mir seit einer Viertelstunde an den Hacken«, sagte sie.

      Warner beugte sich missmutig vornüber und gab vor, unter dem Stuhl etwas zu suchen. Tine dagegen lächelte in das Kameraauge und winkte dem Unbekannten zu, der irgendwo an Land, im Büro irgendeiner Behörde saß und den Flugkörper aus der Ferne steuerte.

      Tine arbeitete als Synchronsprecherin. Sie erzählte, dass sie in Hannover zwei lange Tage im Studio verbracht habe, wo sie für eine Doku gebucht gewesen wäre. Sie habe das Overlay einer belgischen Historikerin eingesprochen. Der Film solle zum Jahrestag des Anschlags ausgestrahlt werden.

      Als Enno ihr einen Teller reichte, fragte sie ihn, wo er eigentlich am zwanzigsten Dezember gewesen sei. Sie dachte sich nichts dabei. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wie schmerzhaft die Erinnerung an diesen Tag für ihn war.

      »Also, wir waren Wellenreiten«, sprang Hose ihm umgehend bei. »Hab ich dir nie erzählt, oder?«

      Enno schüttelte den Kopf.

      »Wir waren alle in Emden, in diesem Club, der grad aufgemacht hatte – den Namen hab ich vergessen –, als die Nachricht kam, dass evakuiert werden sollte.«

      »Ich nicht, ich war in Hage«, verbesserte Tine ihren Freund. »Meine Eltern hatten Urlaub. Ich sollte nach dem Haus sehen. Katze füttern, Blumen gießen und so.«

      »Amnesie«, sagte Warner. »So hieß der Club.« Und an Tine gewandt: »Ich hatte dich gefragt, ob du mitwillst. Da warst du aber schon am Packen.«

      »Ich war in Neßmersiel, bei meiner Mutter«, hörte Enno sich sagen. Vielleicht war es ja gut, dass Tine das Thema aufgebracht hatte, dachte er. Zwang es ihn doch dazu, mit jemandem über seinen Verlust zu sprechen.

      Hose nahm einen Schluck Bier und fuhr fort zu erzählen. »Da waren Kalli und Monika, Johannes und Helmut, Angelika, Hans-Dieter und Meike, Ida … also ein knappes Dutzend Leute aus der Gegend«, sagte er. »Kurz vor Mitternacht haben sie die Musik ausgemacht und Bescheid gegeben: In vierundzwanzig Stunden sollte jeder sein Zeug gepackt und Ostfriesland verlassen haben.«

      »Fēng le!«, warf Warner ein – chinesisch für »verrückt« – ein Ausruf, den er aus einer populären Sitcom hatte.

      »Wir standen draußen zusammen, bis der Buzz kam.« Mit Buzz meinte Hose das selbstfahrende wasserstoffbetriebene Sammeltaxi der gleichnamigen holländischen Firma, die tags darauf nicht mehr existieren sollte. »Aber eigentlich wollte keiner von uns nach Hause fahren.«

      »Keine Lust, da voll in die Panik zu geraten!«, erklärte Warner. »Ihr wisst, was ich meine: Alle am Packen, Mutter am Heulen, Vater am Schimpfen über die Regierung, der nichts Besseres einfällt, als die Leute zu schikanieren; und die sollten lieber nach Sprengsätzen suchen, ist ja Zeit genug … Die ganze Leier.«

      Tine und Hose sahen sich an und grinsten. Sie kannten Herrn und Frau Brunken, Warners Eltern, und konnten sich die Szene, die er beschrieb, lebhaft vorstellen.

      »Ich glaube, die Idee mit den Booten kam von Kalli«, sagte Hose.

      »Johannes«, widersprach Warner.

      Tine kicherte. »Ich kenne mindestens noch zwei Leute, die behaupten, es wär ihre Idee gewesen.«

      »Ist doch egal«, meinte Hose. »Jedenfalls waren wir die einzigen, die vorhatten, die Anweisungen zu ignorieren und Wellenreiten zu gehen.«

      Ennos lebhafteste Erinnerung an diesen Abend war der Streit mit seiner Mutter. Es war kurz vor Weihnachten gewesen. Für die meisten Freunde und Bekannten, die wie er weit weg von Zuhause arbeiteten,


Скачать книгу