LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


Скачать книгу
der fünften Klasse mit ihm befreundet. Schon damals hatte es nichts gegeben, was sie sich nicht gegenseitig anvertrauten, und wenig, was sie nicht miteinander teilten.

      In Ennos Augen war Holger ein Riese. Weil er als Jugendlicher zu klein gewesen war, hatte er Hormonspritzen bekommen und war danach gewachsen, bis er eine Größe von zwei Metern und zehn erreicht hatte. Seine allzu hagere Statur kompensierte er mit einer rotblonden Mähne, die seitdem so etwas wie sein Markenzeichen darstellte.

      Nach dem Abitur waren sie zusammen nach Berlin gegangen. Holger schrieb sich für Mineralogie ein, Enno studierte Kommunikationstechnik, »etwas Praktisches und Handfestes«, wie er die Wahl damals begründete. Obwohl sie sich nicht mehr täglich trafen, schweißten sie die Erfahrungen, die sie in der Großstadt machten, noch enger zusammen.

      Am Ende des zweiten Semesters erlitt Ennos Mutter mit ihrem E-Skooter einen Unfall, bei dem sie sich beide Beine brach. Enno sah sich gezwungen, sein Studium in Bremen fortzusetzen, von wo aus er sie an den Wochenenden besuchen konnte. Nach dem Umzug verloren Holger und er sich aus den Augen. Enno war mit dem Studium, Freundinnen und politischen Aktivitäten an der Universität mehr als ausgelastet. Das letzte Mal, dass sie längere Zeit miteinander verbrachten, war der Sonntag, an dem Holgers Vater beerdigt wurde, und die Woche darauf, in der Enno seinem Freund beistand und ihm half, den Nachlass zu regeln.

      Drei Jahre später stand Ostfriesland unter Wasser, und Ennos Mutter war nicht mehr da. Er verdrängte den Verlust, so gut er konnte und solange es ging. Eines Abends, allein in der Werkswohnung seines ersten Arbeitgebers in Osnabrück, traf ihn der Schmerz mit voller Wucht. Es kam ihm so vor, als risse ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Im Herbst 2056 kündigte Enno den Kontrakt und suchte sich eine Unterkunft in seiner alten Heimat. Das Dachgeschoss eines überfluteten Hochhauses, das einst die Skyline der Insel Norderney geprägt hatte, kam ihm gerade recht – ebenso wie das Jobangebot der Golden Blades Corporation.

      Holger war bereits im Frühjahr, drei Monate nach dem Anschlag, in das überschwemmte Gebiet gezogen. Er wohnte ganz in der Nähe. Aber Enno wollte niemanden sehen. Er konnte keine Menschen um sich ertragen. Holger respektierte das. Er fuhr hin und wieder bei seinem Freund vorbei, hörte ihm zu, wenn ihm nach Reden war, und ließ ihn in Ruhe, wenn er merkte, dass er alleine sein wollte. Nur zwei- oder dreimal konnte er Enno dazu überreden, am Samstagabend ins Heaven zu kommen.

      So ging das zwei Jahre lang, bis zu dem Tag, als der alte Mann ihn und das Wartungsboot aus dem Wasser fischte.

      Der Alte war neben dem Hochhaus vor Anker gegangen. Solange Enno das Bett hütete, kam er täglich herüber und leistete dem jungen Mann ein wenig Gesellschaft. Bei seinen Besuchen brachte er frisch gefangene Fische, Tomaten aus seinem Gewächshaus oder ein Glas Vitaminsaft mit. Einmal hatte er sogar einen Teller Labskaus mit Spiegelei dabei, den Enno mit großem Appetit leerte. Außerdem sah er nach der Entsalzungsanlage, die sich drei Stockwerke tiefer befand, prüfte die Leistung der Solarmodule auf dem Dach und half Enno dabei, mit der GBC-Personalabteilung die Entgeltfortzahlung zu klären.

      Nachdem Enno wieder auf den Beinen war, machte der alte Mann keine Anstalten, seine Fahrt fortzusetzen. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht ein paar Worte miteinander wechselten. So dauerte es nicht lange, bis Enno sich an die Gesellschaft seines neuen Nachbarn gewöhnt hatte.

      »Ich mag ehrlich gesagt gar nicht daran denken, dass er sich mit seinem schwimmenden Haus irgendwann wieder auf den Weg machen könnte«, gestand er Tine Monate später schmunzelnd ein. »Ich glaube, ich würde ihn vermissen.«

      Tine freute sich. »Du magst den alten Mann. Das finde ich schön. Er ist ein bisschen sonderbar, aber er ist gut für dich«, sagte sie und fuhr ihm mit den Fingern durch die schwarzen Locken. »Das Einsiedlerdasein, das du hier geführt hast, ist nichts für dich«, meinte sie. »Seitdem du wieder mehr unter die Leute kommst, gefällst du mir viel besser.« Ihre Geste und ihr Gesichtsausdruck erinnerten ihn an seine Mutter.

      Tine hatte recht: Es tat wirklich gut, den Alten um sich zu haben. Man konnte sich mit ihm über alles Mögliche unterhalten, und er hatte zu fast jedem Thema eine Meinung, die auf Faktenwissen oder Erfahrung beruhte. Das unterschied ihn von den älteren Menschen, die Enno auf der Arbeit kennengelernt hatte und die ihre auf nichts begründeten Vorurteile gerne als der Weisheit letzten Schluss getarnt hatten.

      Unabhängig davon, dass er ein guter Gesprächspartner war, hielt sein Nachbar sich bedeckt, wenn ihm die Fragen der jungen Leute zu persönlich wurden. Auch Enno gegenüber blieb er zurückhaltend. Als sie zum Du übergingen, stellte er sich ihm als »Piet« vor. So erfuhren sie endlich seinen Namen. Außerdem erzählte er, dass er lange in den Niederlanden gelebt und sich nach der Flutkatastrophe aufgemacht hatte, um in Deutschland nach Verwandten zu suchen.

      »Mit der Suche scheint es dein ›Holländer‹ ja nicht sehr eilig zu haben«, merkte Warner an. Der kleine Mann mit dem Pferdeschwanz, der im Leuchtturm ein paar Kilometer weiter östlich lebte, bezeichnete sich selbst als »IT-Sicherheitsberater«. Hose zufolge war er vor allem als Hacker tätig. Vielleicht lag es an Warners Beruf, dass er Fremden grundsätzlich misstraute. Für Piet machte er keine Ausnahme. Er hielt sogar dessen Namen für cover.

      In den folgenden Monaten war Enno noch zweimal Zeuge, wie sein Nachbar einen Anfall erlitt, ähnlich dem, den er im Wohnzimmer des Hausbootes beobachtet hatte. Als Enno ihn darauf ansprach, tippte der Alte sich an die Stirn und erklärte: »Arbeitet da oben nicht mehr so, wie ich es gerne hätte. Immer wieder Aussetzer. Gibt sich aber jedes Mal wieder.« Was genau ihm fehlte, brachte Enno nicht in Erfahrung. »Das ist eben so, wenn man alt wird«, wiegelte Piet ab. »Erst recht, wenn man so ein alter Sack ist wie ich.«

      

      2·Wellenreiter

      »Bistnhier?«, fragte Warner, ohne dabei im Kauen innezuhalten.

      Enno wandte sich Hose zu, der rechts von ihm auf einem Campingstuhl saß. Der schlaksige Mann im Neoprenanzug brauchte zehn Sekunden länger, bis er die genuschelte Frage verstanden hatte. »Tahiti«, antwortete er und deutete mit Daumen und Gabel nach hinten, über die Dachkante hinaus und ein paar Stockwerke tiefer, wo er seine Schwimminsel an einem Balkongitter festgemacht hatte.

      Warner schürzte die Lippen und nickte. Er kannte die aufblasbare Insel und wusste, dass Hose sie »Tahiti« nannte, weil aus ihrer Mitte eine Gummipalme aufragte. Hose benutzte sie notgedrungen, wenn Tine mit dem Motorboot unterwegs war. Bei ablaufendem Wasser wagte er sich mit der Insel sogar bis zum Hochhaus hinaus.

      Enno beugte sich vor, stieß den Grillspieß in eines der Clean-Meat-Würstchen, die Hose mitgebracht hatte, und balancierte seine Beute auf den Rost in ihrer Mitte. Über der glühenden Kohle begann das Fett, das aus den Einstichlöchern austrat, zu zischen.

      Warner studierte das Kleingedruckte auf der Verpackung. »›Kulturfleisch aus Thüringen‹«, las er vor. »Aus dem Bioreaktor frisch auf den Tisch.«

      »Besser als Veggie oder Buffalowürmer«, meinte Hose.

      »Oder jeden Tag Fisch«, sagte Warner.

      Enno lehnte sich zu Hose hinüber. »Ärger mit Tine?« Die Frage war leise genug, dass die anderen sie nicht hören und sein Freund sie ignorieren konnte, falls er keine Lust haben sollte, über Kirstin zu reden.

      »Nee, sie ist einfach spät dran. Hat ’nen Job in Hannover. Sie sollte eigentlich gleich kommen.«

      Die Antwort klang entspannt, stellte Enno fest. Das lag bestimmt auch daran, dass Warner sich heute Abend zu ihnen gesellt hatte. Solange der Hacker hier, auf dem Flachdach des Hochhauses, mit ihnen zusammensaß, konnte Hose sicher sein, dass seine Freundin sich nicht heimlich mit ihrem Ex traf, für den sie nach wie vor eine tiefe Zuneigung empfand.

      In diesem Augenblick tauchte der Sonnenball hinter den Horizont. Die jungen Männer wandten die Köpfe nach Westen, wo das letzte Licht des Tages die Nordsee zum Gleißen brachte. Darüber schwebten orangegraue Wolken, scharf konturiert und an ihrem Platz erstarrt, als hätte jemand das Himmelszelt


Скачать книгу