LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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zehn Minuten bis zur Unfallstelle gebraucht hatte, war für Kalli, Monika und ihren kleinen Bruder, die in den oberen Etagen gewohnt hatten, jede Hilfe zu spät gekommen.

      Monika und Karlheinz hatten vom Fischfang gelebt. Der Trawler, den sie zurückließen, hatte noch einige Tage lang über den Trümmern vor Anker gelegen. Er hatte wie ein Mahnmal gewirkt. Niemand hatte sich getraut, ihn von dort zu entfernen.

      Dann war auch er verschwunden.

      Enno stampfte mit dem Fuß auf, wie um sich zu vergewissern, dass ihm in seinem Zuhause nicht das gleiche passieren konnte. »Ist ’ne Menge Beton da unten. Mein Vorgänger hat damit vier, fünf Stockwerke ausgegossen«, erklärte er.

      »Der wollte die Bude nicht aufgeben, als das Wasser stieg.«

      Kann ich gut verstehen, dachte Enno. »Er muss dafür viel Geld locker gemacht haben«, sagte er. »Das ist mir nur recht. Jedenfalls behalte ich das, was noch rauskuckt, im Auge.« Damit meinte er in erster Linie die Wohnung im Dachgeschoss.

      Tine kam die Treppe herunter. Sie legte einen Arm um Hoses Schultern und schmiegte sich an ihn. Dabei sah sie Enno an. »Piet gehts heute ziemlich schlecht, oder?« Sie hatte die Stimme gesenkt, damit der Alte sie nicht hören konnte.

      »Das ist mal so, mal so«, antwortete Enno. »Meistens kann man sich ganz normal mit ihm unterhalten, dann ist er völlig klar im Kopf. Doch im Moment hat er eine üble Phase.«

      »Medikamente?«, fragte Hose.

      »Nimmt er. Ziemlich teures Zeug. Ist aber alle. Morgen kommt eine Drohne mit Nachschub.«

      Hose hob und senkte das Kinn.

      Tine gähnte. »Komm«, forderte sie ihn auf und trat auf den Balkon hinaus. Dabei zog sie ihren Freund mit sich. Nacheinander stiegen sie über das Gitter ins Boot.

      »Na, dann bis Samstag«, sagte Hose.

      »Um acht?«

      »Lot di Tied«, meinte er. Lass dir Zeit. »Voll wirds eh erst um zehn.«

      Enno löste den Palstek, mit dem die Insel vertäut war, und reichte seinem Freund die Leine. »Übrigens fahr ich sonntags gleich weiter. Ich muss ins HQ. Training«, erklärte er.

      »Sport oder was?« Hose lachte.

      »Nee, Fortbildung. Der halbe Nordsee-Wartungstrupp. Diesmal in Berlin.«

      Hose horchte auf. »Da war ich schon ewig nicht mehr.«

      Hose hatte sein Studium nicht abgeschlossen. Nach dem Anschlag war er in seine alte Heimat zurückgekehrt. Ein Flüchtlingsboot, das früher als Ausflugsschiff auf der Themse gedient hatte und vor der Ludgerikirche auf Grund gelaufen war, erschien ihm ein geeigneter Wohnsitz. Mithilfe von Karlheinz’ Trawler und Warners Motorboot zogen sie das Wrack auf den alten Norder Friedhofshügel hinauf, wo es relativ sicher lag. Danach richtete Hose sich auf dem Oberdeck häuslich ein.

      Während der Umbauarbeiten mietete er den Chor der Kirche nebenan. Er benutzte ein Baugerüst dazu, über dem eingedrungenen Wasser einen Boden einzuziehen. Auf dieser Plattform war das Heaven entstanden.

      »Der Laden ist genau das, was ich immer machen wollte«, hatte er Enno einmal erzählt. »Natürlich kann ich davon nicht leben. Zum Glück war ich schlau genug, meine Forschungsergebnisse als Patent anzumelden. Geht um ein Verfahren bei der Scandiumgewinnung. Seltene Erde, schwer zu erklären. Ich hab die Lizenzeinnahmen von den Chinesen und Russen. Das fließt regelmäßig. Ist nicht viel, doch ich komm damit klar.«

      Bei der ersten »Party« unter dem Dach des Hochchors hatte Hose Kirstin kennengelernt. Enno hatte nicht schlecht gestaunt, als die beiden zwei Wochen später zusammengezogen waren. Seitdem begleitete Hose seine Freundin ab und zu nach Hannover. Für einen Trip in die Hauptstadt fehlten ihm die Zeit und das Geld.

      Enno entnahm Hoses Tonfall, dass er sich nach Berlin sehnte. Er wusste, was sein Freund als Nächstes fragen würde.

      »Was dagegen, wenn ich mitkomme?«

      Enno versicherte ihm, dass er nichts gegen seine Gesellschaft einzuwenden hätte. Im Gegenteil.

      Hose pflückte die Schwimmbrille von der Gummipalme und steckte sie zu den anderen Sachen ins Drypack. »Ich denk drüber nach und meld mich.« Er deutete ein Winken an. Tine winkte ebenfalls und startete den Motor. Sie fuhren, »Tahiti« im Schlepptau, Richtung Kirche davon.

      Als Enno zurück auf das Dach kam, war der Wind noch warm, traf ihn aber nicht mehr wie eine heiße Wand. Er streifte die Sandalen ab, ohne die er den glühenden Beton tagsüber nicht betreten konnte, ließ sie am Treppenaufgang liegen und setzte sich wieder neben den alten Mann.

      Von Westen kommend näherte sich ihnen eine Möwe. Sie flog in einem weiten Bogen um das Sonnensegel herum und musterte die Menschen von allen Seiten. Dann drehte sie ab und folgte Tines und Hoses Boot.

      Piet machte sich eine Flasche Bier auf. »Kirstin und Holger sind wirklich sehr nett«, sagte er.

      »Ich hab sie auch sehr gern«, erwiderte Enno.

      Er war froh, dass der Alte wieder Interesse an seiner Umgebung zeigte.

      »Und was geht da zwischen ihr und diesem kleinen Stinker, diesem Warner, vor? An Holgers Stelle würde mir das ja mächtig aufstoßen.«

      Enno grinste und nickte. »Tut es auch. Aber was soll er machen? Tine sagte mal, sie würde Warner schon seit einer halben Ewigkeit lieben, aber zusammen sein könne sie nicht mehr mit ihm. Ich denke, Warner liebt sie auch – auf seine Art. Wahrscheinlich ist sie die einzige Person auf der Welt, zu der er eine engere Beziehung aufgebaut hat. Er ist ein schwieriger Mann. Eigentlich ist er sehr großzügig, sehr hilfsbereit, hat aber Probleme mit Menschen, vertraut niemandem und hält alle, die ihn vielleicht mögen könnten, mit seiner ruppigen Art auf Distanz. Vermutlich, weil er sich selbst nicht mag, ich weiß es nicht. Ich werde bis heute nicht schlau aus ihm.«

      »Ich dachte, ihr wärt befreundet.«

      »Ich kenne ihn aus der Schule, hatte aber nie viel Kontakt. Seine Eltern besaßen in Norden ein Hotel. Am Schluss war das mehr so eine Pension. Eine Flüchtlingsunterkunft.«

      »Und was treibt der da drüben in seinem Leuchtturm? Ich meine: Arbeitet er irgendwas?«

      »Für eine Firma in Hannover, soweit ich weiß«, antwortete Enno. »Security, Programmieren, Informationsbeschaffung.« Alles Dinge, von denen er nicht viel verstand. »Er nennt sich ›IT-Sicherheitsberater‹, hat sich auch mal als ›Cybercowboy‹ bezeichnet.«

      »Ein Hacker?«

      Piets Gesichtsausdruck blieb neutral. Enno meinte jedoch, in seinen Augen ein Aufflackern bemerkt zu haben.

      »Nützlich, so jemanden zu kennen. Gefährlich, wenn man ihn sich zum Feind macht«, murmelte der alte Mann.

      Enno sah ihn erstaunt an. Er machte jedoch keine Anstalten, diesen Gedanken weiter zu erläutern.

      

      3·Aktion nicht ausführbar

      »Ich fass es nicht! Du bist und bleibst ein Arschloch!«, schimpfte Marlies und trennte die Verbindung.

      Adrian hatte gerade zu einer Erwiderung angesetzt, als die 3-D-Projektion ihrer Augen unvermittelt erlosch. Er starrte mit offenem Mund auf den PUC an seinem linken Unterarm. Er konnte es nicht fassen, dass Marlies einfach abgeschaltet hatte. Schon wieder! Er hieb mit der Faust auf den Tisch. Er hasste es, wenn sie das tat. Wenn sie das letzte Wort behielt. Und überhaupt, dachte er, was fiel ihr eigentlich ein, ihn als »Arschloch« zu beschimpfen?

      Dann erinnerte er sich, was man ihm nach jedem Gespräch mit Marlies zu tun empfohlen hatte. »PUC, letzten Kontakt orten«, wies er das Gerät an.

      »Aktion nicht ausführbar«, teilte ihm die heisere Frauenstimme


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