LAND UNTER. Dieter Rieken
er, dass dieser Argwohn sie auf Distanz zu ihm gehalten hatte.
Enno blieb nichts anderes übrig, als selbst einen Schritt auf sie zu zu gehen. Vielleicht sollte er sie bei ihrem nächsten Besuch fragen, ob sie sich vorstellen konnte, mit ihm zusammenzuziehen.
Er schob sich den Rest des Proteinriegels in den Mund. Während er auf der zähen Masse herumkaute, ließ er den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es wäre schön, Chris jeden Tag um sich zu haben. Falls sie Lust haben sollte, ihre Kombüse und Koje gegen den Luxus einer Etagenwohnung einzutauschen, hätte er Platz genug.
Es konnte natürlich sein, dass sie zustimmte, aber nicht hier mit ihm wohnen wollte. Er musste sich also mit dem Gedanken auseinandersetzen, sein Zuhause eventuell aufzugeben. Ist nur eine Wohnung, korrigierte er sich – um sich gleich darauf zu fragen, ob der Ort, an dem er lebte, nicht mehr als »nur eine Wohnung« für ihn geworden war …
Als er vor vier Jahren zurück nach Ostfriesland gezogen war, hatte er gewusst, dass er sich mit der Besetzung des Hochhauses rechtlich in einer Grauzone bewegte. Er hatte jedoch seine Gründe, sich gerade hier niederzulassen, in diesem Gebäude, das dem Wasser nach wie vor standhielt. Die Nähe zu den Windparks war einer davon. Insofern scherte es Enno wenig, ob sein Handeln legal war oder nicht.
Bis zu der Reportage im Roten Kanal. Das Videoportal hatte sich auf Skandal- und Sensationsberichte über Politiker, Sportler, Spitzenmanager und Künstler spezialisiert. Es war einer der populärsten Kanäle des Landes. Ein paar Monate nach Ennos Einzug hatte ihm Warner eine Message geschickt. Sie bestand aus einem Link und einem Kommentar: »Da braut sich was zusammen.«
Der Link führte Enno zu dem Film über die »Rückkehrer«, Menschen wie ihn, die sich nach dem Anschlag in den Ruinen der überfluteten Städte ein Zuhause geschaffen hatten. Der Bericht zeichnete ihn und seine Nachbarn als Anarchisten, Schmarotzer und Kriminelle. Er basierte auf den O-Tönen zweier »Aussteiger« aus der »Besetzerszene«. Beide waren ausschließlich von hinten zu sehen, ihre Stimmen hatte man verfremdet. Im besten Fall seien die Rückkehrer, so der Tenor der Reportage, als weltfremde Spinner zu sehen, die mit der illegalen Besetzung der maroden Gebäude Kopf und Kragen riskierten. Der Beitrag war bereits von Zehntausenden aufgerufen, geteilt und gelikt worden, bevor Enno ihn das erste Mal sah.
Kurz darauf stellte ihm eine Drohne ein Schreiben aus Hannover zu. Darin wurde er aufgefordert, das besetzte Gebäude umgehend zu verlassen. Andernfalls würde geräumt werden müssen.
Wiederum ein paar Tage später tauchten in der Gegend zwei junge Frauen auf. Sie kamen aus Quakenbrück, hatten Videocams dabei und erklärten, eine Reportage drehen zu wollen – die »Story hinter der Story«. Hose habe die beiden »auf Anhieb supernett« gefunden, wusste Monika zu berichten, als Enno sie und Kalli draußen auf dem Wasser traf. Er habe die Frauen als neugierig und unvoreingenommen beschrieben. Sie wollten wohl tatsächlich herausfinden, was das für Menschen seien, die den widrigen Umständen trotzten und im überschwemmten Gebiet ausharrten.
Hose und Tine fuhren die beiden herum. Sie kannten die meisten Nachbarn und mussten diese nicht lange überreden, sich interviewen zu lassen.
»Mir gefällt die Gegend. Hat sie schon immer. Ich will hier einfach nur in Ruhe leben«, sagte eine Frau, die in Sandhorst einen Biohühnerzucht- und Legebetrieb unterhielt.
»Ich kapier nicht, was der ganze Hass soll. Wir haben niemandem was getan«, ergänzte eine etwa zwanzigjährige Punkerin, die neben ihr stand und vermutlich ihre Tochter war.
»Keiner von uns hat je behauptet, dass die Gebäude uns gehören«, empörte sich Karlheinz. Monika nahm seine Hand und beteuerte: »Wenn einer kommt und sagt, er will uns im Fährhaus nicht mehr haben, sind wir sofort weg.« Der Fischer warf einen finsteren Blick in die Kamera. »Nicht, dass wir das gerne täten«, ergänzte er brummig.
Am Ende der Interviews stellten die beiden Frauen allen dieselben Fragen: »Warum sind Sie nach Ostfriesland zurückgekehrt? Und warum wollen Sie unbedingt hierbleiben?«
Warner hatte eigens ein dunkelrotes Jackett angezogen und den Pferdeschwanz unter dem Kragen verschwinden lassen. Vor der Kamera gab sich der Hacker betont seriös. Er lobte das Klima, die gute Luft und die Ruhe, die er bräuchte, um seiner anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit als IT-Sicherheitsberater nachgehen zu können.
Ein perfekter Auftritt, dachte Enno, als er den Film sah. Es war Warner gelungen, seinen Sarkasmus weit genug zu zügeln, dass keiner merkte, wie lächerlich er die ganze Situation fand.
»Mein Name ist Tammen, Holger Tammen«, gab Hose zu Protokoll. Das hatte er bestimmt schon immer mal sagen wollen. »Ich komme aus Norden. Meine Familie stammt aus der Gegend, so wie die meisten, die hier leben. Ich finde es schön, dass meine Freunde und Bekannten wieder da sind. Wär echt schade, wenn sie gehen müssten.«
Auch andere Leute aus ihrem Umfeld begründeten die Entscheidung, in Ostfriesland zu bleiben, mit ihrer Verbundenheit der alten Heimat, den Freunden und der Familie gegenüber. Die meisten konnten zudem auf eine mehr oder weniger einträgliche Arbeit verweisen, was die Reportage im Roten Kanal Lügen strafte. »Wir sind ganz normale Leute. Wir zahlen Steuern wie ganz normale Leute«, betonte zum Beispiel Monika, die angab, zusammen mit ihrem Freund im Fischereigewerbe tätig zu sein.
Die Filmcrew passte Enno am Nachmittag auf dem Dach des Hochhauses ab. Die Frauen hatten ihn überrumpelt, und er kam nicht mehr dazu, sich die Antworten vorher zurechtzulegen. Ohne es zu wollen, schoss er mit seinem Statement den Vogel ab: »Meine Mutter hat früher da hinten gelebt.« Er zeigte in Richtung Südosten, wo es nichts mehr zu sehen gab außer Wasser. »Ich bin wieder hergezogen, um ihr Andenken zu ehren und sie angemessen zu betrauern.«
Als der Film im Netz auftauchte, gingen die Zugriffe innerhalb weniger Tage durch die Decke. Er löste eine landesweite Sympathiewelle aus. Fast alle Medien schlossen sich der positiven Berichterstattung über die »Rückkehrer« an. Viele Eigentümer offerierten den Besetzern einen Mietvertrag. Einige übertrugen ihnen die aufgegebenen Gebäude gleich ganz.
Die beiden jungen Frauen hatten das Ruder in letzter Minute herumgerissen. Heimatverbundenheit war etwas, das der nationalkonservativen Landesregierung zusagte. Das Thema Räumung war seitdem vom Tisch.
Enno sah sich gerade eine Doku an, da erinnerte ihn der PUC, dass die Ertragsdaten der Solaranlage seit einer Woche unter dem vorgegebenen Wert lagen. Also füllte er einen Eimer mit Wasser, gab einen Spritzer Lösungsmittel hinein und holte einen Schwamm aus der Küchenschublade. Bevor er auf das Dach ging, ersetzte er die Tanks der Trockentoilette durch leere. Er verschloss die Behälter sorgfältig und trug alles nach oben. Die vollen Kanister stellte er neben den Biomüll in den Schatten. Chris würde den Abfall bei ihrem nächsten Besuch mitnehmen und bei der Sammelstelle im Hafen abliefern. Von dort aus wanderten der Urin und Stuhl in die nächstliegende Düngemittelfabrik.
Schwamm und Eimer nahm er mit zu den Solarzellen. Seine Anlage war ein Bausatz, zu dem ein Stromspeicher und zwölf Module mit polykristallinen Zellen auf Siliziumbasis gehörten. Er hatte sich die Komponenten in einem Baumarkt gekauft, mit dem Geld, das er nach der Flutkatastrophe vom Bund erhalten hatte. Piet zufolge beherrschten die Chinesen mit diesen Bausätzen den Weltmarkt. Enno war das egal. Die Anlage war pflegeleicht, die Solarzellen hatten einen Wirkungsgrad von über sechzig Prozent, und der Stromspeicher versorgte zuverlässig ein Kühlfach, die Entsalzungsanlage und zwei LED-Lampen. Für diesen Luxus nahm er es gerne in Kauf, die Module regelmäßig zu putzen.
Es regnete hier draußen nur selten. Der Wind brachte jedoch viel Feuchtigkeit mit sich, die sich auf der Glasversiegelung absetzte und beim Trocknen Salz, Staub und Schmutz hinterließ. Er entfernte den dünnen Film vorsichtig mit dem Schwamm. Anschließend checkte er die Ertragsdaten erneut. Alle Werte lagen wieder im grünen Bereich.
Als er den Eimer über die Dachkante leerte, näherte sich ihm eine Drohne. Sie verharrte für einen Moment im Flug und richtete die Kamera auf ihn. Gesichtserkennung, fragte sich Enno und musste dabei an Warner denken, der geradezu eine Paranoia gegen die behördliche Überwachung des überschwemmten Gebiets entwickelt hatte.