LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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Sonnensegels in einen der Liegestühle gesetzt und seine Angel ausgeworfen. Er beobachtete mit dem Feldstecher den Horizont.

      Enno stellte den Eimer ab und setzte sich neben Piet. »Moin. Schon was gefangen?«

      »Moin. Nee, ich bin gerade erst gekommen«, antwortete Piet. »Da beißt aber bestimmt was. In den Ruinen wimmelt es von Fischen.«

      »Genau wie draußen im Windpark.«

      »Weil die großen Schleppnetzpötte da nicht hinkommen.«

      »Dürfen die nicht. Fischereiverbot«, sagte Enno.

      »Ach nein?« Piet grinste.

      Enno bemerkte den spöttischen Gesichtsausdruck. Sein Nachbar wusste offenbar, dass er bei Wartungseinsätzen gerne sein Netz zwischen den Türmen auswarf. Dabei galt das Verbot selbstverständlich auch für ihn. »Die paar Fische, die ich da raushole«, verteidigte er sich. »Außerdem machst du doch das Gleiche.« Er wies mit dem Kinn auf die Angel.

      Piet grinste noch breiter. »Das ist nicht das Gleiche. Ich hab einen vispas, einen Angelschein«, erwiderte er.

      »Dein vispas gilt bestimmt nicht für deutsche visse«, sagte Enno und lachte.

      Die Miene des Alten wurde ernst. »Es heißt vis, nicht visse«, korrigierte er den jungen Mann. »Und komm du mir nicht mit ›deutsch‹. Das kann ich nicht gut hören – gerade von dir nicht.«

      »Was soll das denn heißen?«, hakte Enno nach. »Meinst du, weil ich nicht so weiß bin wie du?«

      »Natürlich nicht. So war das nicht gemeint.« Piet wandte sich ab und brummte etwas auf Niederländisch.

      »Wie Milchkaffee«, hatte Chris die Farbe von Ennos Haut einmal beschrieben. »Lecker«, hatte sie dem Vergleich hinzugefügt. Enno war einen Moment lang sauer auf seinen Nachbarn gewesen. Als er an die Schlepperkapitänin dachte, musste er unwillkürlich schmunzeln.

      Piet schien ebenfalls etwas Amüsantes eingefallen sein. Sein Mund verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln, das jede Falte auf den stoppeligen Wangen einbezog. »Und von wegen ›deutsche Fische‹: Ob das hier zu Deutschland gehört, darüber lässt sich meines Erachtens streiten«, sagte er. »Genau genommen sitzen wir doch mitten in der Nordsee, weit außerhalb der Zwölfmeilenzone.«

      »Das meinst du nicht im Ernst, oder?«, fragte Enno.

      Der Alte machte »Hmm«, als wöge er den Gedanken ab. Dann stieß er Luft aus der Nase. »Historisch gesehen ist das natürlich Blödsinn. Trotzdem ist es ein Argument. Sollte mich jemals einer hier draußen wegen illegalen Angelns oder so was belangen wollen, bin ich fest entschlossen, damit bis vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.«

      Enno lachte wieder. »Na, dann viel Spaß dabei.«

      Im Stillen freute er sich, dass es Piet heute so gut ging. Er genoss es, mit ihm herumzualbern.

      Der Alte kam oft auf das Dach des Hochhauses herüber. Enno hatte nichts dagegen. Er konnte es nachvollziehen, dass sein Nachbar den Betonboden, so heiß er an manchen Tagen auch wurde, dem Geschaukel im Hausboot vorzog. Außerdem schätzte er die Gesellschaft des alten Mannes. Selbst wenn er gedankenverloren und abweisend wirkte, setzte Enno sich gerne zu ihm, und sie schwiegen gemeinsam.

      Wenn sie so dasaßen, kam es vor, dass Piet den Feldstecher wortlos an ihn weiterreichte und ihm die Richtung wies, in der er etwas Sehenswertes entdeckt hatte. Das konnten zum Beispiel Pott- oder Buckelwale sein, die an ihrem hoch ausgestoßenen Blas erkennbar waren. Die Meeressäuger nahmen auf den Wanderungen zwischen ihren Sommer- und Wintergebieten oft den Weg durch die Nordsee. In der Regel waren in der Ferne Containerschiffe zu sehen, darunter diejenigen, die volle Wasserstofftanks von den Windparks an die Küste und leere zurück zu den Offshorefabriken brachten. Interessanter fand Piet die Frontex-Schiffe, die am Rande der ehemaligen Zwölfmeilenzone patrouillierten. Sie sicherten die Grenze gegen Flüchtlinge, die versuchten, dem Elend in Großbritannien zu entkommen.

      »Du hast bestimmt schon mal was vom Brexit gehört. So nannte man das, als die Briten 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten sind«, erklärte Piet im Plauderton, als Enno das Thema ansprach. »Das war der größte Blödsinn, den sich diese verrückten Insulaner je ausgedacht hatten. Banken und Großunternehmen sind danach reihenweise abgewandert. Innerhalb eines Jahrzehnts war das Land wirtschaftlich am Boden. Viele Leute verloren ihren Job. Zuerst gingen die gut Qualifizierten, gefolgt von den Jüngeren, die zu Hause keine Perspektive mehr sahen. Später kamen die Probleme mit dem Wasser dazu, und alle europäischen Staaten machten die Grenzen dicht. Es versuchen immer noch viele, von der Insel runterzukommen, auf legalem Weg oder nicht. Doch heutzutage haben die schlechte Karten. Denk nur an das Schiff, in dem Holger wohnt. Als es vor der Kirche auf Grund lief, wurden die Flüchtlinge sofort verhaftet und zurückgeschickt … oder ›rückgeführt‹, wie das jetzt heißt.«

      Enno war sicher, dass es während seiner Schulzeit noch Kontingente für britische Flüchtlinge gegeben hatte. In Neßmersiel war eines Tages eine schwarze Familie aufgetaucht, die ursprünglich aus Hull stammte. Seine Mutter hatte sich zusammen mit anderen Ehrenamtlichen um die Neuankömmlinge gekümmert. Anfang der Vierzigerjahre war die Politik der Europäischen Union restriktiver geworden. Deutschland – damals noch grün-links regiert – hatte keine von den Britischen Inseln Geflüchteten mehr aufnehmen dürfen. Das musste der Zeitpunkt gewesen sein, als Frontex die Nordseeküste zu überwachen begonnen hatte. Seitdem wurden alle Schiffe zurückgeschickt, bevor sie europäische Gewässer erreichten. Dabei ging die Grenzschutzagentur genauso konsequent und gnadenlos vor wie seit Jahrzehnten auf dem Mittelmeer und in Griechenland.

      »Ich war zweiundvierzig zuletzt drüben«, berichtete der alte Mann und machte eine Geste in Richtung Horizont. »Das Land war in einem desolaten Zustand. In die Infrastruktur wurde kaum noch investiert. London stand zu großen Teilen unter Wasser. Die Themse war kilometerbreit, eine einzige, stinkende Kloake. Und überall, wo man hinsah, herrschte Armut.«

      Einmal, bevor er Piet gekannt hatte, war Enno auf halbem Weg zum Windpark einem etwa fünfzigjährigen Mann begegnet. Dieser hatte es mit seinem Segelboot geschafft, durch die Maschen des eng gespannten Netzes an Patrouillen zu schlüpfen. Dabei war ihm der Seenebel zugutegekommen, ein Wetterphänomen, das immer dann entstand, wenn der Wind Richtung Norden drehte und die über dem Festland erhitzten Luftmassen über das kühlere Wasser blies.

      Der Mann war Enno auf Anhieb sympathisch gewesen. »Ein Bäcker aus Broadstairs. Hatte seinen eigenen Laden gehabt«, erzählte er dem Alten. »Dann kam das Meer. Die Stadt, die Leute, seine Heimat – alles weg. Er hatte früher an Regatten teilgenommen und kannte sich mit kleinen, schnellen Booten aus. So war es ihm gelungen, die vierhundert Meilen auf See unbeschadet hinter sich zu bringen – die Hälfte davon ohne Sicht, nur mithilfe eines Kompasses. Er hoffte, an der Küste unbemerkt an Land gehen zu können. Hatte vor, sich von dort nach Süddeutschland durchzuschlagen. Keine Ahnung, was er da wollte.«

      Enno hatte großen Respekt vor dem Mut des Mannes und dessen Geschick mit dem Boot gehabt. Er hatte ihm geraten, ein Waldgebiet bei Sandkrug anzusteuern, knapp hundert Kilometer Richtung Südsüdost. »Passen Sie bloß auf, dass Sie an der Küste einen Bogen um die Aquakulturen machen«, hatte er den Mann ermahnt. Der Segler war dankbar gewesen, die Koordinaten zu erhalten. Enno hatte ihm versichert, dass man den nächsten Bahnhof von dort aus zu Fuß erreichen konnte.

      Er habe dem Segler Glück gewünscht – und sich insgeheim für den Mann gefreut, erzählte er Piet. »Den gefährlichsten Teil seiner Reise hatte er längst hinter sich.« Das letzte Stück des Wegs sei im Vergleich dazu ein Kinderspiel gewesen.

      Enno musste an die Flüchtlinge denken, die vor der Ludgerikirche gestrandet waren. Sie hatten nicht so viel Glück gehabt.

      »Mir tun die Briten leid«, sagte er.

      »Mir tun alle Leute leid, die heimatlos sind«, sagte Piet. »Manchmal tu ich mir selber leid.« Er lächelte versonnen.

      Enno


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