LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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lag. Von ihr selbst war nichts zu sehen. Sie musste unter Deck oder, was wahrscheinlicher war, in Ennos Wohnung sein.

      Er holte das Schleppnetz ein, das er unterwegs ausgeworfen hatte, und freute sich, darin ein gutes Dutzend Heringe zu finden. Die beiden kleinsten schmiss er wieder ins Wasser, die anderen landeten im Fischeimer.

      Im Vorbeifahren winkte er Piet zu, der an dem Elektromotor des schwimmenden Hauses herumschraubte. Dann band er das Boot am Balkon fest, verstaute das Schleppnetz im Bug und eilte hinauf in die Dachwohnung.

      Chris lag auf dem Sofa. Sie hatte die Augen geschlossen und hörte Musik. Dass sie den Daumen im Mund und den Zeigefinger um die Nasenspitze geschlungen hatte, war für Enno ein vertrauter Anblick. Er blieb am Treppenabsatz stehen und beobachtete sie.

      Als sie die Augen aufschlug und ihn bemerkte, kam es ihm so vor, als machte sein Herz einen Sprung.

      »Schön, dass du endlich kommst. Ich muss zugeben, dass ich so was Ähnliches wie Sehnsucht nach dir hatte«, nuschelte sie und kicherte. Sie drehte sich auf die Seite und rutschte nach hinten an die Lehne, um ihm Platz zu machen. Dabei gab sie schnurrende Laute von sich.

      Er betrachtete das als Einladung, sich zu ihr zu legen – mit der Aussicht auf mehr.

      Das hatte er richtig verstanden. Kaum, dass er sich neben sie gezwängt hatte, nahm sie den Daumen aus dem Mund und begann, ihn auszuziehen.

      Es war schön, mit Enno zu schlafen. Genau die richtige Mischung aus Zärtlichkeit und Fest-zupacken-können, fand Chris. Der Sex war vor allem unkompliziert. Enno schien immer genau zu wissen, was sie wollte und was ihr gut tat. Es gefiel ihm offensichtlich, ihr das zu geben, was sie begehrte. Das machte es ihr leicht, es ihm gleich zu tun.

      Chris war kein Kuscheltyp. Wenn sie mit einem Mann geschlafen hatte, suchte sie in der Regel umgehend das Weite. Mit Enno war das anders. Er legte sich anschließend auf den Rücken, kreuzte die Hände hinter dem Kopf und wirkte mit sich und der Welt im Reinen. In solchen Momenten wollte er nichts, was sie ihm nicht freiwillig gegeben hätte. Er forderte schon gar nichts von ihr ein, indem er sie nach ihren Gefühlen oder – was sie noch schlimmer gefunden hätte – nach ihrer Vergangenheit ausfragte.

      Während sie sich in dieser Hinsicht lieber bedeckt hielt, war ihm, wenn er so dalag, erstaunlich viel zu entlocken. Sie hatte bereits beim ersten Mal, als sie zusammen im Bett gewesen waren, herausgefunden, dass es sich allein deshalb lohnte zu bleiben. So hatte sie unter anderem erfahren, dass er ohne Vater aufgewachsen war.

      Ennos Mutter war fünfundzwanzig gewesen und mitten in der Ausbildung, als sie Herrn Osterkamp kennengelernt hatte. Er war über dreißig Jahre älter als sie, galant und großzügig, und eroberte ihr Herz im Sturm. Er machte ihr einen Antrag, und sie heirateten keine sechs Wochen, nachdem sie sich das erste Mal verabredet hatten.

      Eine Zeit lang war ihre Ehe ein großes Abenteuer gewesen – bis Ennos Vater für knapp einen Monat verschwand.

      »Das muss immer so weitergegangen sein«, hatte Enno ihr erzählt. »Er blieb ewig weg, und wenn er nach Hause kam, durfte er ihr angeblich nicht sagen, wo er gewesen war oder was er getrieben hatte. Als ich drei war, ist er endgültig abgetaucht. Auf der Arbeit sagte man ihr, er habe gekündigt. Sie hat nie herausgefunden, was aus ihm geworden ist.«

      Bestimmt eine neue Affäre, vermutete Chris. Wahrscheinlich mit einer noch Jüngeren. In ihren Augen ein typisches Frauenschicksal.

      Ennos Mutter hatte sich nicht unterkriegen lassen. Zum Glück konnte sie auf ein gut gefülltes Konto zugreifen. Das Geld ermöglichte es ihr, die Ausbildung zur Altenpflegerin abzuschließen.

      Sie fand eine Arbeit in Esens und eine Wohnung in Neßmersiel. Ihren Sohn zog sie mithilfe von Nachbarn und Freunden groß. Neben dem Job und der Familie war sie in der Flüchtlingshilfe aktiv.

      Sie habe ihn immer zu Fleiß und Durchhaltevermögen angehalten, erinnerte sich Enno. So wie er sie beschrieb, war er mit einer guten Mischung aus Strenge, Humor und uneingeschränkter Liebe erzogen worden.

      Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Enno gerne mehr über seinen Vater erfahren. Auf Fragen, die ihn betrafen, habe seine Mutter jedoch stets ungehalten reagiert. Enno habe den Kummer in ihren Augen gesehen und gelernt, das Tabu zu respektieren. »Verluste schmerzen vielleicht weniger, je länger sie her sind. Aber das macht sie für den Betroffenen bloß erträglicher, nicht kleiner«, hatte er Chris erklärt.

      Während des Studiums hatte Enno viele Partnerinnen gehabt. Chris hatte von seinen Freundinnen nach und nach erfahren, weil er sie beim Erzählen in der Regel namentlich erwähnte. Es gefiel ihr, dass er sich mit seinen Erfolgen beim anderen Geschlecht nicht brüstete. Als sie Hose einmal auf das Thema angesprochen hatte, waren ihm nur zwei Frauen eingefallen, die Enno wichtig gewesen seien. Von den anderen hatte er offenbar nie gehört. Auch dass Enno sich seit Monaten mit ihr traf, schien Hose noch nicht zu wissen.

      Dass viele Frauen Enno attraktiv gefunden hatten, war aus ihrer Sicht leicht nachzuvollziehen. Er war groß und drahtig und sah mit seiner dunklen Hautfarbe und den schwarzen Locken sehr gut aus. Er musste schon als Jugendlicher ein interessanter Typ gewesen sein: etwas eigen und verschroben, aber hilfsbereit gegenüber Freunden und anderen Mitschülern, grundehrlich, klug und sehr selbstbewusst – »ziemlich eingebildet«, wie er das rückblickend nannte. Weil er neugierig und fleißig gewesen war, schloss er die Schule als einer der Besten seines Jahrgangs ab. Anschließend stürzte er sich mit einer Begeisterung ins Studium, die keiner seiner Mitstudenten zu teilen vermochte. Darüber hinaus engagierte er sich für den Klimaschutz und in einer Afrika-Solidaritätsgruppe. Er konnte so leidenschaftlich für seine Überzeugungen streiten, dass ihn selbst diejenigen unter den Kommilitonen, die sich für gar nichts interessierten, hoch schätzten.

      Heute fehle ihm oft die Kraft, sich für etwas so ins Zeug zu legen wie früher, hatte er Chris einmal gestanden. Nach dem Anschlag sei ihm fast alles, was er einmal hätte erreichen wollen, sinnlos erschienen. Das fand sie schade. Doch sie akzeptierte ihn, wie er war – genauso wie er ihr Tun und Denken zwar hinterfragte, sie aber nie zu einer Änderung ihres Verhaltens oder einer Sichtweise drängte.

      Gegen zehn brach Chris wieder auf. Nachdem der Schlepper abgelegt und Kurs auf tiefere Gewässer genommen hatte, schwamm Enno eine halbe Stunde, um etwas für seine Fitness zu tun. Den Rest des Vormittags verbrachte er auf dem Sofa. Er las einen Roman, den er vor Jahren in einem Antiquariat in Osnabrück gekauft hatte, und knabberte an einem Proteinriegel. Dabei döste er immer wieder ein. Später checkte er auf PUC News die aktuellen Nachrichten.

      Dabei bemerkte er, dass er sich weder auf die Kommentare noch auf die Bilder konzentrieren konnte. Seine Gedanken schweiften ein ums andere Mal zu Chris ab.

      Sie hatten es stets vermieden, über ihre Beziehung zu sprechen. Es war nicht notwendig gewesen, ihre Gefühle zu thematisieren – erst recht nicht, da ihre Treffen in erster Linie sexuell motiviert gewesen waren. Es kam Enno so vor, als hätte sich das geändert, zumindest was ihn betraf. Er mochte Chris sehr, und er vertraute ihr. Im Laufe der vergangenen Monate hatte er sich ihr auf eine Weise geöffnet, die sogar über das hinausging, was er mit Hose teilte. Vielleicht sollte er ihr sagen, dass er etwas anderes, etwas Verbindlicheres wollte, als sie es derzeit hatten.

      Dieser Gedanke verunsicherte ihn. Gab es für ihre Beziehung denn überhaupt eine Aussicht auf mehr?, fragte er sich. Dass sie dreißig war, drei Jahre älter als er, spielte für ihn keine Rolle. Dagegen frustrierte es ihn, dass er nicht mit Sicherheit hätte sagen können, ob sie seine Gefühle teilte. Nach außen gab sie sich in der Regel taff, sachlich und verbindlich. Enno hatte sie darüber hinaus als humorvoll, verspielt und verletzlich kennengelernt – Seiten an ihr, die sie vor anderen Menschen verbarg. Doch was wusste er noch über sie?

      Er hatte bis heute kaum etwas über Chris’ Familie erfahren, wenig mehr aus ihrer Schul- und Studienzeit und fast nichts darüber, wo und wie sie gelebt hatte, bevor sie im überschwemmten Gebiet aufgetaucht war. Genauso sparsam, wie sie mit Informationen über ihre Vergangenheit umging, war sie mit ihren Gefühlsäußerungen. Seit ihrem ersten Treffen


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