LAND UNTER. Dieter Rieken

LAND UNTER - Dieter Rieken


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sogar gegen einzelne Staatsführer im Nahen Osten und in Asien, denen man unterstellte, die wirtschaftliche Macht Europas mit allen Mitteln schwächen zu wollen. Es gab schlüssige Theorien. Aber kein Geheimdienst konnte mit Sicherheit sagen, wer hinter dem Anschlag steckte.

      Schließlich hatte Enno resigniert. Er musste davon ausgehen, dass die Schuldigen nie gefunden werden würden.

      Hoses Geschichte hörte er heute zum ersten Mal. Er wunderte sich, warum sein Freund sie ihm so lange vorenthalten hatte.

      »Wir waren echt verrückt. Ich weiß nicht, wie wir uns das vorgestellt hatten, aber sicher nicht so«, sagte Hose gerade. »Die Flutwelle war wie eine Wand … Wie eine Walze. Sie kam rasend schnell auf uns zu. Sie machte jeden Baum und jeden Mast platt, pellte die Dächer von den Häusern und sprengte die Mauern ringsherum einfach weg. Da waren Pferde und Kühe im Wasser, Büsche und Bäume, Autos und Trecker, die mitgerissen wurden, als wögen sie nichts. Überall trieben Trümmer herum: Fensterrahmen, Holzbalken, Tische und Schränke, Verkehrsschilder, Bleche und Plexiglasteile, das ganze Zeug. Und dann dieser Lärm! Kein Rauschen oder Plätschern … Das war ein einziges Knirschen und Knallen, und es wollte gar nicht wieder aufhören. Erst als die Welle an uns vorbei war, ließ der Krach ein bisschen nach.«

      Monika und Kalli seien die Ersten gewesen, die ihr Boot bestiegen und in den reißenden Strom gelenkt hätten, der sie um das Kirchenschiff herum und außer Sicht trug. Meike und Hans-Dieter folgten ihrem Beispiel, ebenso Warner, der Helmut mitnahm, und gleich darauf Ida und Angelika. Die beiden Frauen kreischten auf, als sie ohne eigenes Zutun Fahrt aufnahmen. Meike rief ihnen aus der Ferne etwas zu.

      Hose blieb als Letzter zurück. Idas und Angelikas Aufbruch hatte nur den Rand seiner bewussten Wahrnehmung erreicht. Er war beim Anblick der Wassermassen, die durch seine Heimatstadt walzten und sie sich gnadenlos einverleibten, erstarrt. Er registrierte kaum, dass die Flutwelle den Hügel hinaufrollte und seine Schuhe, Socken und Hosenbeine durchnässte.

      Dann sah er in den Wellen einen Hund vorbeitreiben. Der leblose Körper erinnerte ihn an den Labrador, den er als Kind gehabt hatte.

      »Der Hund brachte mein Hirn wieder auf Touren. Ich glaube, ich hatte im ersten Moment einfach nur Angst gehabt«, gab Hose zu.

      Hätte ich auch gehabt, dachte Enno.

      »Aber kaum, dass wir im Boot saßen, hatten wir den Spaß unseres Lebens. Oder nicht?« Die Frage war an den Hacker gerichtet. Sie klang verunsichert und vorwurfsvoll zugleich.

      Warner gab ein abfälliges Keckern von sich. »So lange, bis du da rausgefallen bist.«

      »Okay. Wir hatten die Stärke der Strömung unterschätzt«, sagte Hose.

      Tine schnaufte. »Sei ehrlich: Ihr habt euch vorher gar keine Gedanken darüber gemacht«, verbesserte sie ihren Freund.

      Hose ging nicht auf die Bemerkung ein. »Monika und Kalli trieb es Richtung Emden davon, Meikes und Idas Boot strack nach Süden, Warners und meins eher Richtung Aurich. Das ging so schnell, dass wir die anderen bald nicht mehr sehen konnten.«

      Anfangs hätten sie den Ritt auf der Flutwelle großartig gefunden. Das gab auch der Hacker zu.

      »Helmut und Warner grölten rum, und wir feuerten uns gegenseitig an …«, erzählte Hose weiter. »Doch was dann kam, war krass. Das Wasser trug uns ja nicht nur über Felder, sondern auch durch zerfetzte Zäune und Stromleitungen hindurch, rein in ein Waldstück und mitten durch Dörfer und Städte …«

      »Was davon übrig geblieben war«, konkretisierte Warner.

      »Und da schwamm immer noch alles rum, die Tiere, die Möbel, das ganze Zeug, und die Welle riss das immer weiter mit … und uns auch.« Hose senkte den Kopf. »Als ich das erste Hausdach schrammte, wurde mir klar, was für einen Blödsinn wir da veranstalteten. Mein Motor kam nicht gegen die Strömung an. War also nichts mit Manövrieren. Irgendwann würde ich mit Sicherheit was rammen, das stabiler war als das Boot.«

      »Mit Sicherheit«, bemerkte Warner spöttisch. Dank des Zwanzig-PS-Außenbordmotors sei es ihm gelungen, gegen die Strömung anzusteuern und die Hindernisse, die Helmut im Wasser ausmachen konnte, zu umfahren, erklärte er. Währenddessen hätten sie versucht, Hose im Auge zu behalten, der als Einziger alleine unterwegs gewesen war.

      »Und dann hats gekracht«, sagte Hose.

      Tine legte eine Hand auf Ennos Unterarm. »Es war eine E/W-Tankstelle«, erklärte sie ihm. »Das Firmenschild auf dem Dach.«

      Hose lächelte betreten. »Keine Ahnung, warum es die Tanke nicht zerlegt hat. Jedenfalls bin ich genau in den Schriftzug reingerauscht.«

      Zum Glück hätte Helmut beobachtet, wie er über Bord gegangen war. »Helmut machte den Lotsen, und ich gab Gas«, berichtete Warner. »War gar nicht so leicht, nah genug an ihn ranzukommen. Aber wir konnten ihn rausfischen.«

      »Mit Helmuts Hose«, ergänzte Tine. Es fiel ihr sichtlich schwer, eine ernste Miene zu bewahren.

      »Der Mick hat echt lange Beine, Leute«, rechtfertigte Warner seine und Helmuts Entscheidung. »Wir hatten nix Besseres dabei, was wir deinem Freund hätten zuwerfen können.«

      Hose musterte den Hacker von oben bis unten, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Mit deiner Büx hätt das nicht geklappt«, sagte er.

      »Das nächste Mal lassen wir dich absaufen, du hormongepimpter Scheinriese«, konterte dieser die Anspielung.

      Tine stieß ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite.

      »Autsch«, sagte Hose, und wieder an Enno gewandt: »Jetzt weißt du, woher der Spitzname kommt.«

      »Da hast du noch Glück gehabt«, meinte Enno lachend. »Stell dir vor, die hätten zum Rausziehen einen Strickpullover genommen.«

      »Oder ’ne Wäscheleine«, krähte Warner.

      Tine schmunzelte. »Der Name erinnert dich hoffentlich daran, nie wieder so einen Mist zu machen«, sagte sie zu Hose und presste ihre Lippen auf seinen Mund.

      Später, als Warner wieder im Schlauchboot saß und mit heulendem Motor Kurs auf den Leuchtturm nahm, begleitete Enno Hose nach unten. An der Balkontür nahm sein Freund die Badekappe und die Flossen auf und verstaute sie in einem Drypack. Dieses schmiss er ins Boot, mit dem Tine gekommen war.

      »Ihr könnt auch bei mir schlafen, wenn ihr wollt«, bot Enno ihm an. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, Holger und Kirstin im Dunkeln den weiten Weg zu dem Wrack fahren zu lassen, auf dem sie wohnten.

      »Alles shiney«, winkte Hose ab und grinste. »Sehen wir uns am Samstag?«

      »Wenn nichts dazwischenkommt, gerne«, antwortete Enno. Seit zwei Jahren besuchte er regelmäßig die »Partys«, die sein Freund an den Wochenenden in der Ludgerikirche veranstaltete. Die Akustik unter dem Gewölbe des Hochchors war unglaublich. Außerdem hatte Enno die Atmosphäre zu schätzen gelernt, die von klassischer Rockmusik und gut gelaunten Gästen geprägt war. Mittlerweile kamen bis zu vierzig Leute ins Heaven, wie Hose seinen Laden nannte, die meisten davon aus der Gegend. Der Rest nahm den weiten Weg vom Festland auf sich, um Freunde und Bekannte zu treffen und mit ihnen zusammen bis in die frühen Morgenstunden zu reden und zu tanzen.

      »Tine und ich haben die Woche den Boden verstärkt. Sie hatte Angst, dass wir eines Abends alle nach unten durchbrechen«, berichtete Hose. Sein Blick schweifte über die nackten Betonwände und die Fensterlöcher, durch die das Meer bei Hochwasser ungehindert einströmte. »Und wie siehts bei dir aus?«

      »Das hält noch ’ne Weile«, versicherte ihm Enno.

      »Denk ans Fährhaus«, mahnte sein Freund, »an Kalli und seine Leute.«

      »Viel Glas und zu dünne Wände«, entgegnete Enno leichthin. Tatsächlich traf ihn die Erinnerung an das Unglück nach wie vor ins Mark.

      Er war gerade auf dem Weg


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