"George Grosz freigesprochen". Moritz Goldstein


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wollte Goldstein sein, er schrieb Erzählungen, Romane und Theaterstücke, der Erfolg aber blieb ihm versagt. Er wurde Journalist. Aber er wurde kein Spiegel. Fast als Gegenbild unterzeichnete er seine Artikel mit ‚Inquit‘ (er untersucht). In seiner Dissertation von 1906 taucht dieses lateinische Wort bei ihm erstmals auf und bezeichnet den Verzicht auf ästhetische Wirkung.2 ‚Er untersucht‘ – dies war sein Programm als Gerichtsberichterstatter an der Vossischen Zeitung. Er untersucht, das bedeu tet: Er untersucht in alle Richtungen, also etwas, das die Staats anwaltschaft in den Jahren, in denen er seine Artikel schrieb, nicht immer tat.

      Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Goldstein von dieser Denkschrift Kenntnis hatte. Aber was ihm klar war und was er vielleicht gerade durch seine Skepsis gegenüber den neuen demokratischen Gesetzen und Institutionen deutlicher sah als andere war, daß geschriebenes Recht allein nie ausreicht, um Recht zu schaffen, daß vielmehr zuletzt immer und einzig der einzelne Mensch für das Recht eintritt oder nicht eintritt. Das galt besonders in jenen Jahren, in denen Goldstein aus den Gerichtssälen berichtete. Vor der Revolution war es ideell zuletzt die Person des Kaisers, die das Recht sichern konnte – wie Goldstein erinnert: „Ein jeder Richter sitzt an des Kaisers Statt.“ („Des Kaisers Gerechtigkeit“) Mit seinem Sturz brach für viele eine Welt zusammen, die in den wenigen krisenhaften Jahren der Weimarer Republik nicht wieder zusammengefügt werden konnte. Es gab keine demokratische Kultur, die demokratische Zivilcourage war schwach. „Ein jeder Richter sitzt an Volkes Statt.“ – dies war Goldsteins Hoffnung, nicht aber Realität. So beschäftigte er sich nicht nur mit den Angeklagten, sondern auch mit den Richtern, die in den zunehmend politischen Prozessen abnehmend das Gesetz vertraten.

      Goldstein berichtete nicht nur über die großen Prozesse, die Schlagzeilen machten – die vielen im Guten wie im Schlechten großen Namen, die in seinen Gerichtsreportagen genannt werden, müssen hier nicht wiederholt werden. Genauso wichtig sind die Beiträge über Prozesse gegen den ‚Mann von der Straße‘, weil in ihnen die heute kaum mehr nachvollziehbare Härte des ‚normalen‘ Lebens zum Ausdruck kommt. Ihm, dem Normalbürger, galt Goldsteins Sympathie trotz seiner kritischen Anmerkungen. Ihm, dem Angeklagten, fühlte er sich verwandt, nicht dem Richter. Wegen Überfüllung des Gerichtssaales mußte Goldstein im April 1929 auf der Anklagebank Platz nehmen.

      Da sitze ich auf demselben Platze, auf dem ich schon so manchen in seiner Schande habe sitzen sehen [...]. Ich entsinne mich ihrer, der Gestalten und der Gesichter, wie sie hier saßen, allein und in Gruppen, und ich entsinne mich der teilnehmenden Wißbegierde, mit der ich in ihren Mienen forschte, um dahinter zu kommen, wie es wohl in ihrer Seele aussehen mochte. [...] Aber wenn nun jemand den Saal heimlich photographierte, und das Bild käme in die Hände von fremden Leuten? Für sie wäre ich der Angeklagte. [...] Und vielleicht nähme er mich aufs Korn, unterstützte die Augen durch ein Glas, und suchte zu entziffern, was auf meinen Mienen geschrieben steht. Und er läse mir gewiß die Scham der Schande ab, die Angst vor der Strafe und die unverkennbar eingegrabenen Spuren der verbrecherischen Neigung. („Das Verbrechergesicht“)

      Fast einhundert Jahre hat Moritz Goldstein gelebt. Mit einem Aufsatz, mit „Deutsch-jüdischer Parnaß“, hat er sich in die Geschichte eingeschrieben. Fünf Jahre nur hatte er eine ihm angemessene und ihn ausfüllende Tätigkeit. Das Hauptwerk jener Jahre wird hier der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

      Ich danke Till Schicketanz für die umfangreichen Recherchen, die sachkundigen Anmerkungen und das Nachwort. Ich danke ebenso Frau Martina Flohr für die Textrevision anhand der Originale.

       Manfred Voigts

       Anmerkungen

      BIOGRAPHISCHES

      ALS GERICHTSREPORTER IN DER VOSSISCHEN

      Im Mai 1928 befand ich mich im Auftrage meines Blattes und des Verlages auf einer Rundreise durch Holland, die vom Verein der Amsterdamer Presse aus Anlaß der bevorstehenden Olympiade veranstaltet wurde. Auf der letzten Station, im Haag, als wir im Begriffe waren, uns zu einem der vielen Festmähler niederzulassen, begrüßte unser dortiger Korrespondent mich mit der Frage: „Was sagen Sie zu Slings Tode?“ Ich erschrak tief: ich hatte einen Freund völlig unerwarteter Weise verloren. Was ich nicht ahnte, war, daß diese Trauerbotschaft für mich in einen Glücksfall umschlagen sollte.

      Sling, mit seinem bürgerlichen Namen Paul Schlesinger, hatte in seinen jungen Jahren dem literarischen Kabarett „Die elf Scharfrichter“ in München angehört, das durch die Teilnahme Frank Wedekinds seinen Rang und seine Weihe erhielt. Aus jener Zeit pflegte Sling zu erzählen, sie wären am Sylvesterabend trübselig im Hinterzimmer ihres Stammkaffees zusammengewesen. Dort hätte ein Gönner sie aufgestöbert und, die Situation durchschauend, sich vernehmen lassen: „Übrigens, meine Herren, da fällt mir ein, ich bin jedem von Ihnen noch zehn Mark schuldig“. Worauf Sling eingewandt haben soll: „Entschuldigen Sie, Herr Baron, bei mir waren es zwanzig.“ Dies sei ihm nur angehängt worden, behauptete Sling, und so war es gewiß. Später ging er zur Presse, gehörte zur Redaktion eines Schweizer Blattes und hatte als ganz junger Eleve Dienst an jenem denkwürdigen Sonntag, als das Luftschiff des Grafen Zeppelin seine erste große Fahrt antrat. Er sah die Wichtigkeit der ersten Meldung, veranlaßte die Herausgabe eines Extrablattes und verfolgte den Kurs des Lenkballons mit immer neuen Extrablättern bis zu der Katastrophe von Echterdingen. Die Größen der Redaktion und des Verlages, die den Sommersonntag im Freien verbracht hatten, kamen am Abend herbeigeströmt, um sich ihr Teil an der Tüchtigkeit des Blattes zu sichern, und waren sehr verblüfft, als spiritus rector der ganzen Aktion den jungen Schlesinger vorzufinden. In späteren Jahren wurde er Ullstein-Korrespondent und saß


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