"George Grosz freigesprochen". Moritz Goldstein
Kurfürstendamm, mit dem die nahe Zukunft wetterleuchtete. Er setzte gegen seine Ankläger eine kalte Gleichgültigkeit, die ihm im Kugelregen wohl angestanden hätte; warum man sich so aufregte, fragte er verwundert, es wären „doch blos ein paar alte Juden verprügelt worden“. Frank, der spätere Reichsjuristenführer, wiegte sich selbstgefällig in wohlberechneter Urbanität der Umgangsformen und ließ von Zeit zu Zeit in beliebig markierter Entrüstung seine orgelartige Stimme dröhnen. Auch der entsetzliche Freisler plädierte, damals nichts als ein unbedeutender Anwalt aus Kassel, später Präsident der berüchtigten Volksgerichte; ein aufgeregter Psychopath ohne Geist und Würde.
Die Zeitgeschichte spiegelte sich auch in solch beklagenswerten Prozessen wie dem Familienstreit zwischen dem preußischen Geheimrat Caro und dem tschechischen Kohlenmagnaten Petschek, wobei die beiden Gegner sich auf wohlerzogene Weise mit Dreck bewarfen. Geheimnisvoll kündigte sich hier das Verhängnis an, das sich über der europäischen Judenheit entladen sollte. Und eine Vorahnung der Zukunft lag auch über dem Bruderzwist im Hause Ullstein, bei dem Georg Bernhard, übel beraten, sich auf die falsche Seite stellte. Er bereitete sich eine Niederlage, die ihn seine Stellung kostete. Damit schied er nicht nur von der „Vossischen Zeitung“ und dem Ullsteinhaus, sondern von der Presse überhaupt, wenn er auch mit Artikeln noch hier und da zu Worte kam. Vor den Nazis floh er nach Paris, dann gelang es ihm, ihnen ein zweites Mal nach New York zu entkommen. Dort starb er jämmerlich in einem Hospital des Negerviertels Harlem.
Übrigens beschränkte sich meine Tätigkeit nicht auf das Moabiter Kriminalgericht. Vergebens freilich bemühte ich mich, den Zivilprozeß für unsere Art von Betrachtung zu erobern. Aber dabei stieß man gegen zu viele private Interessen, und der Versuch mußte bis auf gelegentliche Spezialfälle aufgegeben werden. Indessen da waren die vortrefflichen, unparteiischen und weitsichtigen Arbeitsgerichte, aus deren Verhandlungen man meistens Belehrung und Genugtuung davontrug. Sie blieben unparteiisch und weitsichtig auch, als sie schon über Entlassungen unerwünschter Personen durch die Nazis, zum Beispiel aus dem Rundfunk, zu entscheiden hatten. Vor dem Bühnenschiedsgericht durfte ich die vollkommenen, damals noch völlig unberühmten, aber schon großherzig zur Schau gestellten Beine der jungen Marlene Dietrich bewundern, die sich zu verantworten hatte wegen eines Kontraktbruches, zu dem sie sich gezwungen glaubte, um ihr erstes Engagement in Hollywood anzutreten. Sie mußte Konventionalstrafe zahlen, aber wenn sich je eine Ausgabe gelohnt hat, so war es diese. Gerichte der Behörden zog ich in meinen Kreis, gelegentlich bot das Kammergericht einen geeigneten Fall. Dem wieder aufgenommenen Prozeß gegen Bullerjahn, einen kleinen Angestellten, der wegen Landesverrates furchtbar hart verurteilt worden war, wohnte ich vor dem Reichsgericht in Leipzig bei und war Zeuge des Freispruches. Wichtige Kriminalprozesse führten mich in die Provinz. Im Landgericht Essen, während eines Aufsehen erregenden Mordprozesses, stand eine Gruppe von Presseleuten auf dem Flur in Bereitschaft für die Telephonverbindung mit ihren Redaktionen. Da trat ein älterer Herr ohne Hut und Mantel, also offenbar zum Hause gehörig, möglicher Weise der Gerichtspräsident, auf uns zu, zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf mich und redete mich im schroffsten Ton eines unzufriedenen Vorgesetzten an: „Sind Sie Inquit?“ – Ich schreibe unter der Chiffre Inquit. – „Sind Sie Jurist?“ – Nein, ich bin nicht Jurist. –“ Was sind Sie denn?“ – Von Studium bin ich Germanist. – „Treiben Sie diesen Beruf schon lange?“ – Seit ein paar Jahren. – „Macht Ihnen das denn Spaß?“ – Ich habe viel Freude daran. – Und dann, immer mit der Stimme vorwurfsvoller Gereiztheit: „Lese Ihre Berichte stets mit dem größten Vergnügen. Morjen!“ Drehte sich um und ließ mich verblüfft stehen.
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Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Ahnungslos über das, was bevorstand, fuhren wir alle in unserer täglichen Arbeit fort, und so schrieb ich auch weiter meine Gerichts-Inquits. Am 31. März, etwa einen Monat nach dem Reichstagsbrand, zog ein nationalsozialistischer Stoßtrupp durch die Berliner Gerichte und trieb die Juden aus, jüdische Richter, jüdische Ankläger, jüdische Rechtsanwälte, jüdische Pressevertreter. Der Vorsitzende übt bekanntlich die Sitzungspolizei aus. Er hätte zum Schutze seiner Verhandlung bewaffnete Hilfe herbeirufen müssen, er hätte es wenigstens versuchen sollen. Nichts dergleichen geschah irgendwo. An manchen Stellen wurde der körperliche Hinauswurf vollzogen, anderwärts kam der Gerichtshof dem schändlichen Schauspiel zuvor, schloß die Sitzung und machte sich davon.
Eine Gunst des Himmels bewahrte mich davor, persönlich die Schmach zu erdulden: zufälliger Weise war ich an jenem Tage nicht in Moabit. Wie ich mich verhalten hätte, ob ich gegangen oder eigensinnig geblieben wäre, bis sie mich die Treppe hinunter schmissen, vermag ich hinterher nicht zu sagen. Von dieser Stunde an war das Betreten des Gerichts den jüdischen Pressevertretern untersagt.
Immer noch nicht im Bilde über den brutalen Ernst der Lage, schlug ich Goetz vor, ich würde wieder zum Dienst der Lokalredaktion antreten. Er stimmte zu, vorbehaltlich der Einwilligung des Verlages. Der Verlag ließ mir sagen, er sei keineswegs einverstanden, ich könnte „sowieso nicht bleiben“, ich möchte Vorschläge für mein Ausscheiden machen.
Das hieß Vernichtung meiner Existenz ohne die Möglichkeit, in Deutschland irgendeinen Unterschlupf zu finden. Meine Lebenshaltung war sofort aufs Äußerste zu reduzieren, aber die Wohnung und sonstige Verpflichtungen konnte ich nicht einfach loswerden. Meine Vorschläge stützten sich auf den Vertrag mit Ullstein, wonach Kündigung nur möglich war, zu einem bestimmten Termin mit einer Frist von sechs Monaten. Die daraus sich ergebende Summe hielt ich für den Mindestbetrag, den ich fordern mußte, um mich abzuwickeln und den Übergang zu einem neuen Leben zu finden. Das Haus Ullstein, vertreten durch seinen völlig unsentimentalen Verlagsdirektor Richard A. Müller, ging keineswegs darauf ein, zeigte keinerlei Verständnis für meine Lage, leugnete mir ins Gesicht, daß diese Maßnahme antisemitisch wäre, und bot mir schließlich eine Pauschalabfindung von 6000 Mark, weniger, als mir rechtlich zustand. Es blieb mir nichts übrig als zuzustimmen. Am 4. Mai packte ich in der Redaktion meinen Kram zusammen, eine Bureaujacke, ein bißchen Geschirr, einen Seifenbehälter, ein paar Skripturen, und ging. Mit merkwürdig wenig Erschütterung; aber die niedergehende politische Katastrophe und die persönliche Sorge um die Zukunft füllten das Bewußtsein und ließen keinen Raum für Gefühle der Wehmut.
Ich war einer der ersten oder vielleicht überhaupt der erste im Ullsteinhaus, die unter dem Druck der Nazis ausschieden. Mein letzter Gerichtsbericht trug die ominöse Überschrift „Wie schlecht ist ein Mensch?“ Er handelte von einem kleinen Mädchen, das ein Bösewicht in seine Wohnung gelockt hatte, um einen Lustmord an ihm zu begehen. Das Kind besorgte ihm auf seinen Wunsch Zigaretten und ahnte nicht im Entferntesten, wie schlecht ein Mensch sein kann. Aber auch wir Erwachsenen ahnten es damals noch nicht.
Damit hörte ich auf, von Berufs wegen zur Presse zu gehören. Im Ausland, abgesehen von ein paar gelegentlichen Beiträgen, habe ich den Anschluß nicht wieder gefunden.
Ein Mensch wie ich, Autobiographie, 1948 (Auszug)
Anmerkungen
Rundreise durch Holland ] Vgl. Goldsteins Schilderungen „Pfannkuchen in Westkapelle“ (Vossische Zeitung, Nr. 128, 30. 5. 1928), „Das kleine Land am Meer“ (ebd., Nr. 277, 14. 6. 1928) sowie „Das kleinste Haus von Amsterdam“ (Berliner Morgenpost, Nr. 143, 16. 6. 1928).
Sling ] Paul Felix ‚Sling‘ Schlesinger (1878–1928) trat nach 1900 als Musikkritiker in den Ullstein-Konzern ein, seit 1916 bei der Vossischen Zeitung, im Ersten Weltkrieg als Korrespondent in Genf. – Schlesingers stilbildende Reportagen und Feuilletons erschienen gesammelt in Das Sling-Buch (Berlin 1924), Richter und Gerichtete (Berlin 1929) sowie in Der Fassadenkletterer vom „Kaiserhof“ (Berlin 1990) und Die Nase der Sphinx oder wie wir Berliner so sind (Berlin 1987). Zum Verhältnis zwischen Inquit und Sling siehe unten, Nachwort.
Die elf Scharfrichter ... Frank Wedekind ] Wedekind (1864–1918) trat nach seiner Haft wegen Majestätsbeleidigung (1901–1903) als Chansonnier dem Münchner Kabarett bei. Die sog. ‚Exekutionen‘ der Truppe um Leo Greiner, Robert Kothe und Rudi Weinhöppel umfaßten Gedichtrezitationen, Chansons, Bänkelgesänge, Sketche,