Verlierer auf Erden, Gewinner im Himmel. Gabriel Magma
ich, dass ich tot war. Es war zwar nicht schwer zu begreifen, dass ich gestorben war, aber trotzdem verwirrend, denn ich fühlte mich lebendiger denn je.
Während ich dies alles zu verarbeiten versuchte, unterbrach mich eine Lichtgestalt, die mir seltsam vertraut vorkam. Die untere Hälfte ihres Körpers war nur verschwommen zu sehen, aber ich erkannte, dass zwei Lichtstrahlen von ihrem Rücken ausgingen.
»Matt, ich bin Jeremiah, dein Schutzengel. Erinnerst du dich an mich?«
»Hast du gerade Schutzengel gesagt?«, fragte ich.
»Ja, du hast richtig gehört. Ich bin Jeremiah und habe seit deiner Geburt über dich gewacht.«
»Oh, alles klar. Aber du warst längere Zeit in Urlaub, stimmt’s? Ehrlich gesagt hätte ich hier nämlich ein bisschen Hilfe brauchen können.«
»Ich bin immer an deiner Seite gewesen und habe dir geholfen. Auch wenn du mich nicht oft gebraucht hast. Du bist doch recht gut allein zurechtgekommen.«
»He, das ist wohl ironisch gemeint, wie?«
»Wenn wir den Lichttunnel durchschreiten, kannst du auf dein Leben zurückblicken. Und dann wirst du verstehen, wie außergewöhnlich dein Leben verlaufen ist. Auf der anderen Seite warten alle mit offenen Armen auf dich.«
»Im Augenblick möchte ich mich eigentlich nur von meiner Familie verabschieden.«
»Du kannst es versuchen, aber sie werden dich nicht sehen oder hören können. Ich schlage vor, dass du zunächst den Himmel aufsuchst und später hierher zurückkehrst und deine Familie besuchst, wenn sie wieder inneren Frieden gefunden hat. Dann wird sie deine Gegenwart spüren können.«
»Ich werde keine Rückschau auf mein Leben halten. Und ich will auch nicht, dass es jemand anderes tut.«
»Niemand wird über dich richten, Matt. Außerdem gibt es so vieles, auf das du stolz sein kannst – viel mehr, als du dir zugestehst. Bitte erlaube mir, dich durch den Tunnel zu führen.«
»Du willst mich wohl verarschen. Ich weiß, wie mein Leben verlaufen ist.«
»Dort, wo ich herkomme, ist es verboten, andere hinters Licht zu führen. Vertrau mir. Glaube mir, dass du keine Ahnung hast, wie wichtig dein Leben gewesen ist.«
Mein Leben war so offensichtlich verschwendet gewesen, dass seine Worte mich fast beleidigten.
»Warte mal«, sagte ich. »Ich glaube, du hast den falschen Matt erwischt. Ich bin der Musiker.«
»Ich habe dein Leben seit deiner Geburt verfolgt. Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst, aber dein Leben ist für viele andere Seelen, die inkarnieren möchten, beispielhaft.«
Als ich ihn so reden hörte, fragte ich mich, ob Engel noch ganz bei Trost sind. Aber seltsamerweise wirkte er keineswegs verrückt.
»Lass uns einen Handel machen«, sagte er. »Du gehst dein Leben durch und sagst mir, was du deiner Meinung nach richtig und was du falsch gemacht hast. Und dann zeigen wir deine Auflistung den himmlischen Führern. Für alles, was du richtig bewertest, erfülle ich dir in deinem nächsten Leben einen Wunsch.«
»Was meinst du mit meinem ›nächsten Leben‹? Ich möchte hier nicht noch einmal leben.«
»Du musst dich ja auch nicht gleich zu einer weiteren Inkarnation entschließen. Und du musst auch nicht gleich den Himmel aufsuchen. Wir können in den Tunnel gehen und dort eine Weile bleiben, während du mir deine Version deines Lebens erzählst.«
»Wieso können wir nicht einfach hier bleiben?«
»Das könnten wir, aber der Tunnel wird nicht ewig geöffnet sein. Und ich möchte nicht hier zurückbleiben, wenn er sich wieder schließt. Ohne einen Körper auf der Erde zu bleiben, empfiehlt sich nicht.«
Aus seinem Ton hörte ich heraus, dass ich wohl besser daran tat, seinen Rat zu befolgen.
Der Tunnel ist schwer zu beschreiben. Er war geräumig, hatte aber keine klar umrissenen Dimensionen, denn er bestand aus Licht. Es war ein sehr intensives weißes Licht, das jedoch nicht blendete.
Im Tunnel fühlte ich mich sogar noch leichter. Ehrlich gesagt fühlte ich mich dort letztlich sogar ganz wohl.
»Möchtest du dich setzen?« Jeremiah deutete auf einige Sofas (sie bestanden ebenfalls aus Licht), die zufällig genau dieselbe Form hatten wie die bei mir zu Hause. Ich machte es mir auf einem davon bequem.
»Also gut, ich höre dir zu. Ich kenne dein Leben zwar in- und auswendig, aber ich möchte deine Version hören. Das wird sicher interessant …«
Die selbstgefällige Vertraulichkeit, die Jeremiah an den Tag legte, begann allmählich zu nerven, aber irgendetwas in mir empfahl mir, seinen Wünschen nachzukommen, also willigte ich ein.
»Ich würde mein Leben lieber aufschreiben. Das würde mir leichter fallen, denn …«
Bevor ich den Satz beenden konnte, tauchte ein Schreibstift aus Licht in meiner Hand auf. Und zu meiner Verblüffung saß ich jetzt an einem Schreibtisch, auf dem Papier lag – alles ebenfalls aus Licht.
»Gut so?«, fragte Jeremiah.
Ich nickte.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Und wundere dich nicht, wenn du in einem Rutsch dein ganzes Leben erklären kannst. Sobald man die Enge der Erde verlässt, erhält man nach und nach Zugang zur seelischen Klarheit.«
Da ich nicht ganz verstand, wovon er redete, achtete ich einfach nicht weiter auf ihn und begann damit, einen Rückblick auf mein Leben – mein verpfuschtes Leben – zu verfassen. Ich glaubte nicht so recht, irgendjemand könne mich davon überzeugen, dass ich mein Leben lang richtige Entscheidungen getroffen hätte, aber ich beschloss, es trotzdem schriftlich festzuhalten. Und ich war gespannt darauf, die Version der anderen zu hören. Am besten war es wohl, ein Plus-Zeichen (+) neben die guten Dinge und ein Minus-Zeichen (-) neben die schlechten zu setzen.
Und so ließ ich die siebenundzwanzig Jahre meines Lebens innerlich Revue passieren.
2
Mein katastrophales Leben
Mein Vater, der Sportlehrer war, hatte sich immer gewünscht, dass ich ein Spitzensportler werde. Aber auf Gedeih und Verderb – denn beruflich geht das ja in den seltensten Fällen gut – hatte ich mich immer nur für Musik interessiert.
Meine Mutter sagte, sie habe stets gewusst, dass ich einmal Sänger werden würde. Als ich im Alter von dreizehn Monaten Elvis Presley singen hörte, stand ich in meinen Kinderbettchen auf, als wäre ich auf einer Bühne, klammerte mich am Schutzgeländer fest und versuchte, näher ans Radio heranzukommen. Offenbar sah meine Mutter damals das erste Mal, dass mich etwas wirklich faszinierte.
Meistens kam es ihr nämlich so vor, als befände ich mich in einer anderen Welt.
Von diesem Tag an sorgten meine Eltern stets dafür, dass mich Musik umgab, besonders wenn sie wollten, dass ich »in die reale Welt zurückkehrte«, wie sie es ausdrückten. Aber mein Kopf schwebte fast immer in den Wolken, und als ich sechs Jahre alt war, wurde bei mir Autismus diagnostiziert.
Nach dieser Diagnose beschäftigten sich meine Eltern weit mehr als früher mit mir, und darunter hatte meine kleine Schwester Claire zu leiden. Meine Mutter besorgte spezielles Unterrichtsmaterial, um mir möglichst jeden Tag neue Dinge beizubringen, aber fast alles, was ich gelernt hatte, vergaß ich sofort wieder.
Seinerseits versuchte mein Vater, mir das Einzige näher zu bringen, von dem er wirklich etwas verstand: Sport. Obwohl ich höchstens ein mittelmäßiger Sportler war, bemühte er sich jahrelang, mich zu einem Berufssportler auszubilden.
Im Sommer vor meinem Wechsel zu einer weiterführenden Schule ermahnte mich mein Vater, ich müsse als Sohn eines Sportlehrers den anderen Schülern ein gutes Vorbild sein. Aber ich war das genaue Gegenteil, denn ich brachte überhaupt kein Interesse für das auf, was die Lehrer sagten. (Hier