Verlierer auf Erden, Gewinner im Himmel. Gabriel Magma

Verlierer auf Erden, Gewinner im Himmel - Gabriel Magma


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und guter Akustik aus. Meine eigenen Lieder wollte ich nicht singen, da ich Angst hatte, erkannt zu werden. Also wählte ich Imagine von John Lennon. Ich musste einfach daran glauben, dass alles besser werden würde. Dieser erste Tag war hart. Meine Stimme klang viel schlechter, als ich sie in Erinnerung hatte, und ich konnte auch keine innere Ruhe finden, da ich mich ständig vergewissern musste, dass nicht die Polizei auftauchte und mich nach draußen beförderte.

      Die meisten Leute gingen so an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Manche sahen mich voller Verachtung an. Aber andere lächelten mir zu, und hin und wieder warf mir jemand eine Münze hin. Vermutlich merkten die meisten dieser Menschen meiner Stimme an, dass ich früher ein Junkie gewesen war, und spendeten das Geld aus Mitleid. Aber für mich zählte nur, dass ich die 60 Pfund zusammenbringen musste. Am Ende dieses Tages war ich erschöpft und völlig heiser, hatte aber 71 Pfund in der Tasche. Also konnte ich das Apartment bei Margaret mieten und schlief mit dem befriedigenden Gefühl ein, das Geld für die Miete aus eigener Kraft aufgebracht zu haben. (Ein Plus dafür, dass ich etwas eigenständig geschafft hatte.)

      Im folgenden Jahr nahm ich jeden Job an, den ich kriegen konnte, arbeitete als Kellner, Verkäufer und sogar als Lagerarbeiter in einem Supermarkt. Doch jedes Mal tauchte dabei das Problem auf, das ich seit frühester Kindheit hatte: Ich konnte mich einfach auf nichts konzentrieren, außer auf Musik. Und da diese Jobs in keiner Weise etwas mit Musik zu tun hatten, griff ich wieder zur Flasche. Ich versuchte mein Trinken zu verheimlichen, aber früher oder später flog es stets auf. (Ein Minus dafür, dass ich wieder zu trinken begann und dadurch jede Festanstellung vermasselte.)

      Schließlich ging mir auf, dass es für mein weiteres Leben nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder ich würde allen Menschen in meinem Umfeld im Weg sein, oder ich würde an der U-Bahn-Station singen. Also beschloss ich, mein Geld als Straßensänger zu verdienen. Ich war davon überzeugt, dass ich, sobald ich wieder spielte und sang – selbst wenn es nur in Stationen der U-Bahn war –, keinen Alkohol mehr brauchen würde. Doch das war ein Irrtum. Es fiel mir schwer, Tag für Tag als Straßensänger aufzutreten, und einzig der Alkohol half mir beim Überleben.

      Wer oder was das Auftreten so schwer machte, war nicht die Polizei, die mich alle zwei oder drei Wochen rausschmiss. Es war auch nicht der Dieb, der mir mein Körbchen mit den Einnahmen stahl und davonrannte. Es waren nicht einmal die Verrückten – Neo-Nazis oder Hooligans –, die mich schikanierten. Was wirklich schwierig war: sich vor ganz normalen Leuten zur Schau zu stellen.

      Die meisten gingen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Aber manche glotzten mich so an, als hätten sie noch nie ein menschliches Wesen gesehen, musterten mich von Kopf bis Fuß, als wollten sie herausbekommen, wie und warum ich zu dem Mann geworden war, den ich jetzt darstellte.

      Andere sahen mich so ängstlich an, als hätte ich womöglich vor, sie auszurauben. Wieder andere zeigten offen ihre Verachtung, so als wäre meine Musik unangenehmer Lärm oder ich ein Umweltverschmutzer.

      Das verstand ich nicht. Ich wusste, dass der Alkohol und die Drogen meinem Aussehen geschadet hatten. Aber selbst wenn ich mich bemühte, mich gut anzuziehen und sauber zu wirken, sahen sie mich so an, als würde ich die Pest verbreiten.

      Eines Tages glotzte mich ein Mann dermaßen angewidert an, dass ich nicht mehr an mich halten konnte. »Verzeihen Sie mir bitte die Unverschämtheit, Ihnen kostenlos meine Musik anzubieten«, sagte ich, weil ich nicht anders konnte. Denn mir war noch allzu gut in Erinnerung, dass Menschen nur ein paar Jahre zuvor 30 Pfund für die Eintrittskarten zu meinen Konzerten bezahlt hatten. Und nun schienen sie tatsächlich bereit, mich dafür zu bezahlen, dass ich zu spielen aufhörte.

      Ich beschloss, die feindseligen Blicke der aggressiven Menschen so gut es ging zu ignorieren und mich auf die anderen zu konzentrieren, die meinen Gesang und das Gitarrenspiel zu schätzen wussten. Ich gab mir damit wirklich Mühe, doch die meisten waren so in sich gekehrt und müde, dass ich gar nicht zu ihnen durchdrang. Manchmal hatte ich das Gefühl, unsichtbar zu sein oder die Wände anzusingen, und dann musste ich mein Spielen abbrechen.

      Anfangs war es wirklich schrecklich, und ich dachte Tag für Tag: Das war das letzte Mal! Ich war davon überzeugt, dass selbst wenn John Denver hier sang, kaum jemand stehen bleiben würde. Es sei denn, jemand erkannte, dass er ein berühmter Sänger war. In diesem Fall würde sich eine Menschenmenge um ihn versammeln und jeder um ein Autogramm bitten.

      Eines Tages bezeichnete mich eine ältere Frau als einen Penner, forderte mich auf zu verschwinden und fragte mich, wieso ich mir keine anständige Arbeit suche, wie der Rest der Menschheit. Ich nannte sie eine alte Hexe und forderte sie auf, sich zu verpissen. Aber in Wirklichkeit taten mir ihre Worte weh. Dieser Tag endete damit, dass ich in meiner Wohnung heulte, denn es machte mir schwer zu schaffen, dass ich mir meinen Lebensunterhalt nur auf diese Weise sichern konnte. Ich trank noch mehr als sonst, um mich zu betäuben.

      Meine Vermieterin Margaret wusste, dass ich trank, aber wir hatten eine stillschweigende Vereinbarung: Betrinken würde ich mich nur in den eigenen vier Wänden, und sie würde mir keine Vorhaltungen deswegen machen.

      Am folgenden Morgen wachte ich mit dem Gedanken auf, dass die ältere Frau, die mir gegenüber so ausfallend geworden war, durchaus Gründe dafür gehabt hatte. Sicher hatte sie den Eindruck gehabt, ich wolle Geld von ihr erbetteln. Ich beschloss, mich von jetzt an nur noch auf meinen Gesang und mein Spiel zu konzentrieren, ohne von jemandem irgendetwas zu erwarten. Falls jemand mich beleidigte oder mich nicht beachtete, sollte es mir ab sofort egal sein. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, das Einzige, das ich gut konnte, bestmöglich zu tun. Und wenn irgendjemand stehen blieb, um mir Geld zu geben, würde ich ihm mit einer Geste danken und mich dann gleich wieder auf meine Musik konzentrieren.

      Noch am selben Tag tat ich genau das. Es fiel mir schwer, gut zu spielen und dabei irgendwelche aggressiven Reaktionen zu ignorieren. Doch zu meiner Verblüffung merkte ich abends, dass ich längst nicht so erschöpft war wie an den Tagen zuvor. Und da ich mich mehr und mehr auf meine Musik konzentrierte, gelang es mir auch zu improvisieren und neue Songs zu komponieren. (Ein Plus dafür, dass ich lernte, meine Wut auf die Pendler in der U-Bahn-Station in den Griff zu bekommen.)

      Eines Tages kam ein Nachbar meiner Eltern auf dem Gang der U-Bahn-Station an mir vorbei und erkannte mich. Neugierig blieb er stehen, um zu sehen, was ich hier trieb. Am folgenden Tag suchten mich meine Eltern und meine Schwester Claire im Gang auf. Sie hatten sich große Sorgen um mich gemacht und waren sehr erleichtert, als sie merkten, dass ich nicht mehr oder wieder auf Drogen war. Meine Eltern boten mir an, in Claires Zimmer zu wohnen, da sie gerade mit ihrem neuen Freund zusammengezogen war. Aber ich erwiderte, ich sei gerade in die »Top Ten« der U-Bahn-Sänger aufgestiegen und käme ganz gut allein zurecht. Ich versprach ihnen jedoch, sie an jedem ersten Freitag im Monat zu besuchen. Und zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich dieses Versprechen auch. (Ein Plus dafür, dass ich diesmal mein Versprechen hielt.)

      Meinen Eltern war es peinlich, mich in der U-Bahn-Station spielen zu sehen, wie es auch mir unangenehm war, dass sie mich dabei entdeckt hatten. Sie suchten mehrere Arbeitsstellen für mich, die ich jedoch stets ablehnte. Claire bemühte sich am meisten, mir zu helfen. Monatelang versuchte sie ein Studio zu finden, in dem ich meine neuen Songs aufnehmen konnte, und schließlich fand sie tatsächlich eines, in dem es klappte. Danach versuchte sie, mehrere Schallplattenfirmen für meine Arbeit zu interessieren. Doch ein, zwei Jahre nach Aufnahme meiner Songs besuchte sie mich eines Tages in der U-Bahn-Station und weinte. Sie erzählte mir, eine Schallplattenfirma habe jüngst einen Teenager namens Melvin unter Vertrag genommen und ein Album von ihm mit meinen Songs auf den Markt gebracht – ein Riesenerfolg.

      Ich glaubte es nicht, bis ich die Platte hörte und die Songs mit Recht als meine bezeichnen konnte. Ich war zwar wütend, doch irgendwie freute ich mich auch, weil es bedeutete, dass diese Songs den Menschen gefielen und daher auch ich wieder Erfolg haben könnte.

      Melvin wurde auch international gefeiert. Deshalb suchten wir die Schallplattenfirma auf und drohten sie zu verklagen, falls sie die Songs nicht als von mir komponierte anerkannten. Da man sich dort weigerte, uns überhaupt anzuhören, beauftragte Claire einen Rechtsanwalt mit unserem Fall und wir verklagten das Unternehmen. Der Anwalt versicherte, wir hätten das Urheberrecht


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