Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung - Arthur Conan Doyle


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ich geläutet hätte. Ich sagte nein. Er entschuldigte sich für die späte Störung und erwähnte dabei, es sei schon fast ein Uhr. Danach nickte ich ein und schlief fest bis zum Morgen.

      Und jetzt komme ich zu dem befremdlichsten Teil meiner Erzählung. Als ich aufwachte, war es heller Tag. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und sah, daß es kurz vor neun war. Ich hatte ausdrücklich darum gebeten, um acht Uhr geweckt zu werden, und diese Nachlässigkeit erstaunte mich aufs höchste. Ich sprang aus dem Bett und läutete nach dem Diener. Nichts rührte sich. Ich läutete noch einmal und dann noch einmal – mit demselben Ergebnis. Ich kam darauf zum Schluß, daß die Klingel defekt sein müsse. Hastig streifte ich meine Kleider über und stürmte in übelster Laune nach unten, um heißes Wasser zu verlangen. Was glauben Sie, wie überrascht ich war, als ich ganz einfach niemanden dort vorfand. Ich rief in der Eingangshalle. Keine Antwort. Dann rannte ich von Zimmer zu Zimmer. Alle verlassen. Am Abend zuvor hatte mir mein Gastgeber sein Schlafzimmer gezeigt. Ich klopfte also dort an. Keine Antwort. Ich drehte den Türknauf und trat ein. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt. Er war verschwunden, genau wie die anderen. Der fremdländische Gastgeber, der fremdländische Lakai, der fremdländische Koch, sie alle hatten sich im Lauf der Nacht in Luft aufgelöst! Dies war das Ende meines Besuches in Wisteria Lodge.«

      Sherlock Holmes rieb sich schmunzelnd die Hände, während er diesen bizarren Vorfall seiner Sammlung seltsamer Geschehnisse einverleibte.

      »Ihr Erlebnis ist, soweit ich weiß, vollkommen einzigartig«, sagte er. »Darf ich fragen, Sir, was Sie danach getan haben?«

      »Ich war außer mir vor Wut. Mein erster Gedanke war, ich sei das Opfer irgendeines absurden Streiches geworden. Ich packte meine sieben Sachen, warf die Haustür hinter mir zu und machte mich, meine Tasche in der Hand, auf den Weg nach Esher. Dort sprach ich bei Allan Brothers, den wichtigsten Grundstücksmaklern des Dorfes, vor und erfuhr, daß die Villa durch sie vermietet worden war. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß das Ganze wohl nicht einfach zu dem Zweck inszeniert worden war, mich zum Narren zu halten, sondern daß es in erster Linie darum gegangen sein mußte, sich vor der Zahlung der Miete zu drücken. Wir haben Ende März, der vierteljährliche Zahlungstermin steht also vor der Tür. Aber diese Theorie erwies sich als falsch. Der Makler zeigte sich zwar sehr verbunden für meine Warnung, sagte mir aber, die Miete sei schon im voraus bezahlt worden. Darauf fuhr ich in die Stadt zurück und sprach bei der spanischen Botschaft vor. Der Mann war dort unbekannt. Als nächstes suchte ich Melville auf, in dessen Haus ich Garcia kennengelernt hatte, mußte jedoch feststellen, daß er noch weniger über ihn wußte als ich selbst. Und als ich schließlich Ihre Antwort auf mein Kabel erhielt, bin ich zu Ihnen gekommen, da Sie, wenn ich richtig orientiert bin, ein Mann sind, der in schwierigen Fällen Rat weiß. Nun entnehme ich aber dem, was Sie, Herr Inspektor, beim Eintreten gesagt haben, daß meine Geschichte eine Fortsetzung hat und daß ein tragisches Ereignis eingetreten ist. Ich kann Ihnen indes versichern, daß jedes Wort, das ich gesagt habe, wahr ist und daß ich, außer dem, was ich Ihnen erzählt habe, nichts, aber auch gar nichts über das Schicksal dieses Mannes weiß. Ich habe keinen anderen Wunsch, als dem Gesetz auf jede erdenkliche Weise behilflich zu sein.«

      »Davon bin ich überzeugt, Mr. Scott Eccles, davon bin ich überzeugt«, sagte Inspektor Gregson in überaus liebenswürdigem Ton. »Ich kann nicht umhin zu sagen, daß alles, was Sie uns erzählt haben, durchaus mit den Fakten übereinstimmt, die wir bisher in Erfahrung bringen konnten. Zum Beispiel diese Nachricht, die während des Abendessens eingetroffen ist. Haben Sie zufälligerweise bemerkt, was weiter damit geschehen ist?«

      »Ja, das habe ich. Garcia hat sie zusammengeknüllt und ins Kaminfeuer geworfen.«

      »Was haben Sie dazu zu sagen, Mr. Baynes?«

      Der Detektiv vom Lande war ein stämmiger Mann mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht, das lediglich von seinen zwei außergewöhnlich lebhaften Augen, die unter den üppigen Wülsten von Stirn und Wangen beinahe verschwanden, vor dem Eindruck von Plumpheit bewahrt wurde. Mit bedächtigem Lächeln zog er ein zerknittertes und verfärbtes Stück Papier aus der Tasche.

      »Da war ein korbförmiger Feuerrost, Mr. Holmes, und Garcia hat das Papier darüber hinaus geworfen. Ich hab es unverbrannt dahinter hervorgeholt.«

      Holmes lächelte anerkennend.

      »Sie müssen das Haus sehr gründlich durchsucht haben, wenn es Ihnen gelungen ist, ein so unscheinbares Papierbällchen zu finden.«

      »Das habe ich, Mr. Holmes. Das ist so meine Art. Soll ich es vorlesen, Mr. Gregson?«

      Der Londoner Polizeibeamte nickte.

      »Die Nachricht ist auf gewöhnlichem, cremefarbenem Papier ohne Wasserzeichen geschrieben. Es handelt sich um einen Viertelbogen, der durch zwei Schnitte mit einer kurzschneidigen Schere abgetrennt wurde. Er ist dreifach gefaltet und mit rotem Siegellack versiegelt, der in aller Eile appliziert und mit einem flachen, ovalen Gegenstand angedrückt worden ist. Adressiert ist die Nachricht an Mr. Garcia, Wisteria Lodge. Der Wortlaut ist der folgende:

      Unsere Farben, grün und weiß. Grün offen, weiß geschlossen. Haupttreppe, erster Korridor, siebte rechts, grüner Boi4. Gott schütze Sie. D.

      Es ist eine Frauenhandschrift, geschrieben mit einer sehr spitzen Feder; die Adresse jedoch ist entweder mit einer anderen Feder oder nicht von derselben Hand geschrieben worden; sehen Sie, die Buchstaben sind kräftiger und fetter.«

      »Eine höchst bemerkenswerte Nachricht«, sagte Holmes, als er sie überflog. »Sie haben bei deren Untersuchung eine Aufmerksamkeit für Details gezeigt, zu der ich Ihnen gratuliere, Mr. Baynes. Ein paar kleine Ergänzungen ließen sich vielleicht noch anbringen. Das ovale Siegel ist ohne Zweifel ein ganz kommuner Manschettenknopf; ich wüßte nichts anderes, was diese Form hätte. Bei der Schere handelt es sich um eine Nagelschere, denn so kurz die einzelnen Schnitte auch sein mögen, so läßt sich doch bei beiden dieselbe leichte Krümmung feststellen.«

      Der Detektiv vom Lande schmunzelte.

      »Ich war der Meinung, den letzten Tropfen Saft herausgepreßt zu haben, aber offensichtlich war noch ein bißchen was übrig«, sagte er. »Ich muß im übrigen gestehen, daß ich der Mitteilung selbst nicht eben viel entnehmen kann, außer daß da etwas im Busch war und daß, wie üblich, eine Frau dahintersteckt.«

      Mr. Scott Eccles war während dieses Gesprächs unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht.

      »Ich bin froh, daß Sie den Brief gefunden haben«, sagte er, »da er das, was ich Ihnen erzählt habe, bestätigt. Ich möchte nun aber doch darauf hinweisen, daß man mir noch immer nicht gesagt hat, was Mr. Garcia widerfahren ist und was aus seiner Dienerschaft geworden ist.«

      »Was Garcia betrifft«, erwiderte Gregson, »das läßt sich rasch beantworten. Man hat ihn heute früh tot aufgefunden, auf der Allmende von Oxshott, beinahe eine Meile von seinem Haus entfernt. Sein Kopf war regelrecht zu Brei gehauen, durch wuchtige Schläge mit einem Sandsack oder einem ähnlichen, nicht scharfkantigen, sondern stumpfen Gegenstand. Es ist einsam dort, im Umkreis von einer Viertelmeile findet sich kein einziges Haus. Offensichtlich ist er zuerst von hinten niedergestreckt worden; sein Angreifer muß jedoch noch weiter auf ihn eingeschlagen haben, als er schon längst tot war. Eine ungeheuer wütende Attacke. Fußspuren oder andere Hinweise auf die Täter konnten wir keine ausmachen.«

      »Ist er ausgeraubt worden?«

      »Nein, es gab keine Anzeichen von Raub.«

      »Das ist sehr schmerzlich – sehr schmerzlich und furchtbar«, sagte Mr. Scott Eccles mit kläglicher Stimme, »aber mich trifft es wirklich ganz besonders hart. Ich hatte doch nichts damit zu tun, daß mein Gastgeber sich auf einen nächtlichen Ausflug begeben und dabei ein so trauriges Ende gefunden hat. Wie kommt es denn, daß ich in diesen Fall hineingezogen werde?«

      »Ganz einfach, Sir«, erwiderte Inspektor Baynes. »Das einzige Schriftstück, das wir in der Tasche des Toten gefunden haben, war ein Brief von Ihnen, in welchem geschrieben stand, daß Sie ihn besuchen würden, in der Nacht seines Todes. Durch den Umschlag


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