Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan Doyle
er solle Sie in London aufspüren, während ich Wisteria Lodge unter die Lupe nahm. Darauf bin ich in die Stadt gefahren, um mich Mr. Gregson anzuschließen, und da sind wir nun.«
»Ich glaube, es wäre jetzt angebracht, der Sache mehr offizielles Gepräge zu geben«, sagte Gregson und erhob sich. »Wollen Sie so gut sein, Mr. Scott Eccles, uns zum Polizeirevier zu begleiten, damit wir Ihre Aussage schriftlich festhalten können?«
»Aber gewiß, ich komme sofort. Ihre Dienste, Mr. Holmes, möchte ich jedoch weiterhin in Anspruch nehmen. Ich wünsche, daß Sie weder Kosten noch Mühen scheuen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Mein Freund wandte sich an den Inspektor vom Lande.
»Ich hoffe, Sie haben gegen meine Mitarbeit nichts einzuwenden, Mr. Baynes?«
»Ganz im Gegenteil, Sir, ich fühle mich hoch geehrt.«
»Ich habe den Eindruck erhalten, daß Sie in allem, was Sie bisher unternommen haben, sehr rasch und professionell vorgegangen sind. Darf ich fragen, ob es irgendeinen Hinweis darauf gibt, wann genau der Mann den Tod gefunden hat?«
»Er muß seit ein Uhr dort gelegen haben. Um diese Zeit hat es zu regnen angefangen, und sein Tod ist ohne jeden Zweifel vor dem Regen eingetreten.«
»Aber das ist doch völlig unmöglich, Mr. Baynes«, rief unser Klient. »Seine Stimme ist unverwechselbar. Ich könnte schwören, daß er es war, der um eben diese Zeit in meinem Schlafzimmer das Wort an mich gerichtet hat.«
»Bemerkenswert allerdings, jedoch keineswegs unmöglich«, entgegnete Holmes lächelnd.
»Haben Sie schon einen Anhaltspunkt?« fragte Gregson.
»Auf den ersten Blick erscheint dieser Fall nicht sonderlich kompliziert, wenngleich er einige neuartige und interessante Züge aufweist. Ehe ich mich jedoch darauf einlasse, ein eindeutiges und endgültiges Urteil darüber abzugeben, muß ich erst weitere Fakten in Erfahrung bringen. Übrigens, Mr. Baynes, haben Sie bei Ihrer Untersuchung des Hauses außer diesem Brief sonst noch etwas Bemerkenswertes gefunden?«
Der Detektiv schaute meinen Freund mit einem eigenartigen Blick an.
»Es gab da ein, zwei sehr bemerkenswerte Dinge«, erwiderte er. »Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir hinauszufahren, sobald ich auf der Wache fertig bin? Dann könnten Sie mir sagen, was Sie davon halten.«
»Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock Holmes und läutete die Glocke. »Wollen Sie bitte diese Gentlemen hinausgeleiten, Mrs. Hudson, und seien Sie doch so freundlich und schicken Sie den Jungen los mit diesem Telegramm. Er soll fünf Shilling für die Rückantwort bezahlen.«
Nachdem unsere Besucher gegangen waren, saßen wir eine Zeitlang schweigend da. Holmes paffte heftig vor sich hin; seine Brauen über den wachsamen Augen waren zusammengezogen und sein Kopf in der für ihn so charakteristischen Weise energisch vorgereckt.
»Nun, Watson«, fragte er, indem er sich unvermittelt mir zuwandte, »was halten Sie von der Sache?«
»Was ich von dem Verwirrspiel mit Scott Eccles halten soll, das weiß ich überhaupt nicht.«
»Und das Verbrechen?«
»Nun, wenn man das Verschwinden der Gefährten dieses Mannes in Rechnung stellt, so würde ich meinen, daß sie wohl auf irgendeine Weise mit diesem Mord zu tun hatten und vor der Justiz geflohen sind.«
»Das ist gewiß ein möglicher Standpunkt. Sie müssen allerdings zugeben, daß es auf den ersten Blick höchst seltsam anmutet, daß diese zwei Bediensteten, falls sie sich gegen ihren Herrn verschworen haben, ausgerechnet diese eine Nacht, in der er einen Gast hatte, ausgewählt haben sollten, um ihn umzubringen. An jedem anderen Abend der Woche wäre er ihnen ja ganz allein ausgeliefert gewesen.«
»Aber warum sind sie dann geflohen?«
»Genau das ist die Frage. Warum sind sie geflohen? Ein gewichtiges Faktum. Ein anderes, nicht minder gewichtiges Faktum ist das merkwürdige Erlebnis unseres Klienten Scott Eccles. Nun, mein lieber Watson, sollte es wirklich die Grenzen menschlichen Scharfsinns übersteigen, eine Erklärung zu finden, die diese beiden gewichtigen Fakten umfaßte? Falls sie dann zudem noch so beschaffen sein sollte, daß sie auch diesen geheimnisvollen Brief mit seinem höchst kuriosen Wortlaut einbezöge, wohlan, dann könnte man sie gar als vorläufige Hypothese gelten lassen. Und sollten sich dann auch noch die neuen Fakten, auf die wir stoßen werden, alle in dieses Schema einfügen, dann könnte aus unserer Hypothese nach und nach eine Lösung werden.«
»Aber wie lautet denn unsere Hypothese?«
Holmes lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen in seinem Lehnstuhl zurück.
»Sie müssen zugeben, mein lieber Watson, daß die Idee, es könnte sich um einen Streich handeln, unhaltbar ist. Wie die weitere Entwicklung gezeigt hat, waren schwerwiegende Dinge im Gang; und die Tatsache, daß Mr. Scott Eccles nach Wisteria Lodge gelockt worden ist, steht in irgendeinem Zusammenhang damit.«
»Aber welcher Art könnte dieser Zusammenhang sein?«
»Lassen Sie uns einmal Schritt für Schritt vorgehen. Schon auf den ersten Blick hat man doch das Gefühl, daß an dieser seltsamen und plötzlichen Freundschaft zwischen Scott Eccles und dem jungen Spanier etwas faul war. Letzterer war es, der der Sache Dampf aufsetzte. Er stattete Eccles, der am anderen Ende von London wohnt, schon am ersten Tag, nachdem sie miteinander bekannt geworden waren, einen Besuch ab und blieb in engem Kontakt mit ihm, bis er ihn soweit hatte, daß er nach Esher kam. Nun, was wollte er von Eccles? Was konnte Eccles ihm schon bieten? Ich sehe nicht, was dieser Mann für einen Reiz haben könnte. Er ist nicht besonders intelligent – wohl kaum der ebenbürtige Gesprächspartner für einen gewitzten Südländer. Was war es also, das ihn für Garcias Pläne so besonders geeignet machte, daß dieser aus all den Leuten, die er kennengelernt hatte, gerade ihn auswählte? Besitzt er irgendeine herausragende Eigenschaft? Das möchte ich meinen. Er ist der Inbegriff englischer Respektabilität, und damit der geeignete Mann dafür, in der Rolle des Zeugen auf jeden anderen Engländer den gebührenden Eindruck zu machen. Sie haben ja selbst mitansehen können, wie keiner der beiden Inspektoren auch nur im Traum daran gedacht hätte, seine Aussage anzuzweifeln, so ungewöhnlich sie auch war.«
»Aber was hätte er denn bezeugen sollen?«
»Nichts, so wie die Dinge jetzt liegen; aber alles, wenn sie einen anderen Verlauf genommen hätten. Das ist jedenfalls meine Auffassung von der ganzen Sache.«
»Ah, ich verstehe; er hätte ein Alibi liefern sollen.«
»Genau, mein lieber Watson; er hätte ein Alibi liefern sollen. Wir wollen einmal, rein spekulationshalber, annehmen, daß sämtliche Haushaltsmitglieder von Wisteria Lodge an irgendeinem Komplott beteiligt waren. Das Vorhaben, was immer es im einzelnen sein mag, sollte, sagen wir mal, vor ein Uhr ausgeführt werden. Nun ist es durchaus möglich, daß Scott Eccles durch irgendeine Manipulation an den Uhren dazu gebracht wurde, früher zu Bett zu gehen, als er meinte; auf jeden Fall ist anzunehmen, daß zu dem Zeitpunkt, da Garcia sich so viel Mühe machte, ihm einzureden, es sei ein Uhr, es in Wirklichkeit nicht später als zwölf war. Wenn es nun Garcia gelang; zu tun, was immer er tun wollte, und zu der besagten Zeit wieder zurückzusein, dann konnte er jedwede Anklage parieren. Denn da war dieser untadelige englische Ehrenmann, der bereit war, vor jedem Gericht zu beschwören, daß der Beschuldigte die ganze Zeit über zu Hause gewesen war. Das Ganze war eine Vorsichtsmaßnahme für den schlimmsten Fall.«
»Ja, ja, das verstehe ich schon. Aber was ist mit dem Verschwinden der anderen?«
»Ich habe zwar noch nicht all meine Fakten beisammen, aber ich kann mir nicht denken, daß uns dies vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen sollte. Dennoch, es ist ein Fehler, den Tatsachen mit Behauptungen zuvorzukommen. Unmerklich biegt man sich dann die Fakten zurecht, damit sie besser zu den Theorien passen.«
»Und diese Botschaft?«
»Wie lautete sie noch? ›Unsere Farben, grün und weiß‹ – klingt nach Pferderennen. ›Grün offen, weiß