Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan Doyle

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soll der Gefangene dem Richter vorgeführt und ein polizeilicher Antrag auf Untersuchungshaft gegen ihn gestellt werden; man erhofft sich von dieser Festnahme Entwicklungen von großer Tragweite.

      »Wir müssen unbedingt sofort zu Baynes«, rief Holmes und griff nach seinem Hut. »Wir können ihn gerade noch abfangen, ehe er aufbricht.« Wir eilten die Dorfstraße entlang, und wie erwartet trafen wir den Inspektor im Begriff, sein Quartier zu verlassen.

      »Schon die Zeitung gelesen, Mr. Holmes?« fragte er und streckte uns ein Exemplar entgegen.

      »Ja, Baynes, ich habe sie gelesen. Halten Sie mich bitte nicht für anmaßend, aber ich möchte Ihnen eine freundschaftliche Warnung erteilen.«

      »Eine Warnung, Mr. Holmes?«

      »Ich habe mich recht eingehend mit diesem Fall befaßt, und ich bin gar nicht überzeugt, daß Sie auf dem rechten Weg sind. Ich möchte nicht, daß Sie sich zu weit vorwagen, es sei denn, Sie sind sich ganz sicher.«

      »Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Holmes.«

      »Ich versichere Ihnen, ich will nur Ihr Bestes.«

      Einen Moment lang schien es mir, als ob etwas wie ein Zwinkern über eines von Mr. Baynes' winzigen Äuglein huschte.

      »Wir hatten vereinbart, Mr. Holmes, daß jeder von uns seinen eigenen Weg verfolgt; und genau das tu ich auch.«

      »Oh, sehr wohl«, sagte Holmes. »Nichts für ungut.«

      »Schon recht, Sir; ich bin überzeugt, daß Sie es gut mit mir meinen. Aber jeder hat nun mal so seine eigenen Methoden, Mr. Holmes. Sie haben die Ihren, und, wer weiß, vielleicht habe ich die meinen.«

      »Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren.«

      »Ich will Ihnen gern das Neueste berichten, jederzeit. Dieser Bursche ist ein Wilder, wie er im Buche steht; stark wie ein Zugpferd und grimmig wie der Teufel. Er hat Downing fast den Daumen durchgebissen, bis sie ihn endlich überwältigt hatten. Er spricht so gut wie kein Wort Englisch, alles, was wir aus ihm herausbekommen, sind ein paar Grunzlaute.«

      »Und Sie glauben, beweisen zu können, daß er seinen ehemaligen Herrn ermordet hat?«

      »Das habe ich nicht gesagt, Mr. Holmes; das habe ich nicht gesagt. Wir alle haben unsere kleinen Tricks. Versuchen Sie's auf Ihre Art, und ich versuch's auf meine. So hatten wir es abgemacht.«

      Holmes zuckte die Achseln, als wir gingen.

      »Ich werde aus dem Mann nicht schlau. Er scheint mit offenen Augen ins Unglück zu rennen. Nun, jeder von uns muß es wohl auf seine Art versuchen, wie er zu sagen pflegt, und schauen, was dabei herauskommt. Aber dennoch ist da was an diesem Inspektor Baynes, das ich nicht ganz verstehe.«

      »Nehmen Sie doch gleich mal Platz in diesem Stuhl da, Watson«, sagte Sherlock Holmes, als wir wieder in unserem Logis im Bull angelangt waren. »Ich möchte Sie über den Stand der Dinge informieren, da ich heute abend womöglich Ihre Hilfe brauche. Lassen Sie mich Ihnen die Entwicklung dieses Falles darlegen, soweit ich diese nachzuzeichnen vermag. So simpel der Fall in seinen Hauptzügen auch anmuten mag, so birgt er doch ungeahnte Schwierigkeiten im Hinblick auf eine Verhaftung. In dieser Beziehung gilt es noch einige Lücken zu füllen.

      Wenden wir uns nochmals dem Brief zu, der Garcia am Abend seines Todes übergeben wurde. Die Theorie von Baynes, daß Garcias Diener etwas mit der Sache zu tun haben sollten, können wir ruhig übergehen. Der Beweis für ihre Unrichtigkeit liegt darin, daß Garcia selbst den Besuch von Scott Eccles in seinem Hause arrangiert hat, was sich nur dadurch erklären läßt, daß er sich ein Alibi beschaffen wollte. Folglich war es Garcia, der in jener Nacht etwas vorhatte, und zwar allem Anschein nach etwas Verbrecherisches, bei dessen Ausführung er dann den Tod fand. Ich sage ›verbrecherisch‹, weil nur ein Mann mit verbrecherischen Absichten den Wunsch hat, für ein Alibi zu sorgen. Wer also kommt dann am ehesten für den Mord an ihm in Frage? Doch wohl diejenige Person, gegen die der verbrecherische Anschlag gerichtet war. So weit, scheint mir, bewegen wir uns auf sicherem Boden.

      Damit wird nun aber auch ein Grund für das Verschwinden von Garcias Dienerschaft ersichtlich. Sie waren alle drei Komplizen bei diesem uns unbekannten Verbrechen. Klappte die Sache und kehrte Garcia zurück, so würde die Aussage des englischen Gentleman jeglichen Verdacht entkräften, und alles wäre in Ordnung. Indes, das Unternehmen war gefährlich, und kehrte Garcia innerhalb einer festgelegten Zeit nicht zurück, so mußte angenommen werden, daß er selbst ums Leben gekommen war. Für diesen Fall hatten sie deshalb vereinbart, daß sich die beiden Bediensteten an einen vorher bestimmten Ort begeben sollten, wo sie vor den Ermittlungen der Polizei in Sicherheit und außerdem in der Lage wären, den Anschlag später zu wiederholen. Das würde die vorliegenden Fakten doch umfassend erklären, nicht wahr?«

      Das ganze Durcheinander begann sich vor meinem geistigen Auge zu entwirren, und ich fragte mich, wie jedesmal, warum mir dies alles nicht längst schon klar gewesen war.

      »Aber warum sollte einer der Diener zurückkommen?«

      »Man könnte sich vorstellen, daß er in der Aufregung der Flucht etwas Kostbares, etwas, von dem er sich nicht trennen konnte, zurückgelassen hat. Dies würde seine Hartnäckigkeit erklären, denken Sie nicht?«

      »Nun ja, und was kommt als nächstes?«

      »Als nächstes kommt der Brief, den Garcia während des Abendessens erhalten hat. Er verweist auf einen Verbündeten auf der anderen Seite. Es fragt sich bloß, wo diese andere Seite ist. Ich habe Ihnen bereits dargelegt, daß es sich um ein großes Haus handeln muß und daß die Anzahl großer Häuser begrenzt ist. Die ersten paar Tage hier in diesem Dorf verbrachte ich mit einer Reihe von Spaziergängen, auf denen ich – in den Pausen zwischen meinen botanischen Studien – alle großen Häuser in der Umgebung auskundschaftete und die Familiengeschichte ihrer Bewohner unter die Lupe nahm. Ein Haus, ein einziges nur, erregte meine Aufmerksamkeit. Es war der berühmte, alte, im Stile Jakobs des Ersten erbaute Landsitz High Gable, der eine Meile hinter Oxshott und weniger als eine halbe Meile vom Schauplatz der Tragödie entfernt liegt. Die anderen Landhäuser gehören alle prosaischen, ehrbaren Leuten, die ein Leben fern aller Abenteuerlichkeit fuhren. Mr. Henderson von High Gable jedoch ist nach allem, was man so hört, ein merkwürdiger Mann, dem merkwürdige Erlebnisse durchaus widerfahren könnten. Ich konzentrierte also meine Aufmerksamkeit auf ihn und seine Hausgenossen.

      Ein eigenartiges Grüppchen, das kann ich Ihnen sagen, Watson – und der Mann selbst ist der eigenartigste von allen. Es gelang mir, unter einem plausiblen Vorwand bei ihm vorzusprechen, aber im grüblerischen Blick seiner dunklen, tiefliegenden Augen glaubte ich lesen zu können, daß er sich über den wahren Grund meines Besuches völlig im klaren war. Er ist ein kräftiger und energischer Mann um die fünfzig mit eisengrauem Haar, dicken, buschigen, schwarzen Augenbrauen, dem Gang eines Hirsches und dem Auftreten eines Imperators – ein gefährlicher, herrischer Mensch, hinter dessen pergamentenem Gesicht der Jähzorn lauert. Henderson ist entweder Ausländer öder hat längere Zeit in den Tropen gelebt, denn er wirkt gelblich und ausgedörrt, ist aber zäh wie Peitschenleder. Sein Freund und Sekretär, Mr. Lucas, ist ohne jeden Zweifel Ausländer; er ist schokoladenbraun, durchtrieben, glatt und katzenhaft, seine Sprechweise ist von giftiger Sanftheit. Sie sehen, Watson, jetzt haben wir bereits zwei Gruppen von Ausländern – eine in Wisteria Lodge und eine in High Gable –, womit sich die Lücken allmählich schließen.

      Diese beiden Männer, zwischen denen eine enge und vertraute Freundschaft besteht, bilden das Zentrum des Haushalts; daneben gibt es aber eine Person, die in unserem speziellen Zusammenhang vielleicht noch wichtiger ist. Henderson hat zwei Kinder, Mädchen im Alter von elf und dreizehn Jahren, und eine Miss Burnet, eine Engländerin von ungefähr vierzig Jahren, ist ihre Gouvernante. Zudem gibt es da noch einen ergebenen Diener. Diese kleine Gruppe bildet die Familie im engeren Sinn, denn sie reisen gemeinsam in der Welt umher, und Henderson ist ein großer Reisender, ein Mensch, der immer auf dem Sprung ist. Erst vor ein paar Wochen ist er, nach einjähriger Abwesenheit, wieder nach High Gable zurückgekehrt. Beizufügen wäre noch, daß er enorm reich ist und jegliche seiner Launen mit Leichtigkeit befriedigen


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