Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan Doyle
Ohne ihre Aussage können wir keine Verhaftung vornehmen, so viel steht fest; je eher sie also sprechen kann, desto besser.«
»Sie kommt mit jeder Minute mehr zu Kräften«, sagte Holmes mit einem Blick auf die Gouvernante. »Aber sagen Sie mir, Baynes, wer ist denn dieser Henderson?«
»Henderson«, erwiderte der Inspektor, »ist Don Murillo, einstmals genannt ›Der Tiger von San Pedro‹.«
Der Tiger von San Pedro! Blitzartig fiel mir die ganze Geschichte dieses Mannes wieder ein. Den Namen hatte er sich erworben als sittenlosester und blutrünstigster Tyrann, der je ein Land, das sich zur Zivilisation zählte, regiert hatte. Stärke, Furchtlosigkeit und Tatkraft waren die Tugenden, dank denen es ihm gelang, einem sich ohnmächtig duckenden Volk zehn oder zwölf Jahre lang eine Herrschaft des abscheulichsten Lasters aufzuzwingen. Er war der Schrecken ganz Zentralamerikas. Schließlich kam es zu einer allgemeinen Erhebung gegen ihn. Doch war er ebenso gerissen wie grausam, und bei den ersten Gerüchten von aufkommenden Unruhen ließ er insgeheim all seine Schätze auf ein mit getreuen Anhängern bemanntes Schiff bringen. Der Palast, den die Aufständischen tags darauf stürmten, war leer. Der Diktator, seine zwei Kinder, sein Sekretär und all seine Reichtümer waren ihnen entwischt. Von jenem Tag an war er wie vom Erdboden verschluckt, und seine Identität hatte in der europäischen Presse seither des öftern zu Spekulationen Anlaß gegeben.
»Jawohl, Sir, Don Murillo, der Tiger von San Pedro«, wiederholte Baynes. »Wenn Sie nachschlagen, so werden Sie herausfinden, daß die Nationalfarben von San Pedro Grün und Weiß sind, dieselben Farben wie in der Nachricht, Mr. Holmes. Henderson hat er sich genannt, aber ich hab seine Spur zurückverfolgt, über Paris, Rom und Madrid bis nach Barcelona, wo sein Schiff anno 86 angekommen ist. Die ganze Zeit über haben sie ihn gesucht, um Rache an ihm zu nehmen, aber erst kürzlich sind sie ihm auf die Schliche gekommen.«
»Aufgespürt haben sie ihn schon vor einem Jahr«, sagte Miss Burnet, die sich aufgesetzt hatte und dem Gespräch aufmerksam folgte. »Es wurde schon einmal ein Anschlag auf ihn verübt, aber irgendein böser Dämon muß ihn beschützt haben. Und auch jetzt wieder ist es der edle, wackere Garcia, der sein Leben lassen mußte, während dieses Ungeheuer unversehrt davongekommen ist. Aber ein anderer wird kommen, und danach wieder ein anderer, bis der Gerechtigkeit eines Tages Genüge getan ist; das weiß ich so gewiß, wie daß die Sonne morgen wieder aufgeht.« Ihre mageren Hände ballten sich zu Fäusten, und ihr abgezehrtes Gesicht wurde weiß vor leidenschaftlichem Haß.
»Aber was haben denn Sie mit dieser Sache zu tun, Miss Burnet?« fragte Holmes. »Wie kommt eine englische Lady dazu, sich an einem solch mörderischen Unternehmen zu beteiligen?«
»Ich nehme daran teil, weil es auf dieser Welt keinen anderen Weg gibt, Gerechtigkeit zu erlangen. Was schert sich das englische Gesetz um die Ströme von Blut, die vor Jahren in San Pedro vergossen wurden, oder um die Schiffsladung von Schätzen, die dieser Mann gestohlen hat? Für euch ist es, als seien diese Verbrechen auf einem anderen Stern begangen worden. Wir aber wissen Bescheid. Wir haben durch Kummer und Leid die Wahrheit erfahren. Für uns gibt es in der Hölle keinen Teufel wie Juan Murillo – und hier auf Erden keinen Seelenfrieden8, solange seine Opfer nach Vergeltung schreien.«
»Er war bestimmt genau so, wie Sie sagen«, warf Holmes ein. »Ich habe das Schlimmste über ihn gehört. Aber inwiefern sind Sie davon betroffen?«
»Ich will Ihnen alles erzählen. Es gehörte zur Politik dieses Scheusals, jeden Mann, der sich dereinst zu einem ernstzunehmenden Rivalen entwickeln könnte, unter dem einen oder anderen Vorwand aus dem Weg zu räumen. Mein Gatte – ja, mein richtiger Name ist Señora Victor Durando – war der Gesandte von San Pedro in London. Dort haben wir uns kennengelernt und geheiratet. Nie hat ein edlerer Mann als er auf Erden gelebt. Unseligerweise aber hörte Murillo von seinen hervorragenden Qualitäten, berief ihn unter einem Vorwand zurück und ließ ihn erschießen. Sein Schicksal vorausahnend, hatte er es abgelehnt, mich mitzunehmen. Sein Vermögen wurde konfisziert, mir blieb nichts als ein Notgroschen und ein gebrochenes Herz.
Dann kam der Sturz des Tyrannen. Er entwischte genau so, wie Sie es eben geschildert haben. Aber all die Unzähligen, deren Leben er zerstört hatte, deren Nächste und Liebste unter seinen Händen Folter und Tod erlitten hatten, waren nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie schlössen sich zu einem Bund zusammen, der nicht eher aufgelöst werden sollte, als bis das Werk vollbracht war. Sobald wir hinter der Maske von Henderson den gefallenen Despoten ausgemacht hatten, fiel mir die Aufgabe zu, mich in seinen Haushalt einzuschleichen und die anderen über jede seiner Bewegungen auf dem laufenden zu halten. Dies gelang mir, indem ich mir die Stellung als Gouvernante in seinem Hause verschaffte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, daß die Frau, die ihm bei allen Mahlzeiten gegenübersaß, die Gattin eines Mannes war, dessen Lebenslicht er von einer Stunde auf die andere ausgelöscht hatte. Ich zeigte ihm ein lächelndes Gesicht, kam meinen Pflichten gegenüber den Kindern nach und wartete, bis die Zeit reif wäre. Ein erster Anschlag wurde in Paris auf ihn verübt und mißlang. Darauf reisten wir in hektischem Zickzack durch ganz Europa, um die Verfolger abzuschütteln, und kehrten schließlich in dieses Haus zurück, das er bei seinem ersten Aufenthalt in England erworben hatte.
Aber auch hier warteten die Sachwalter der Gerechtigkeit auf ihn. Garcia, welcher der Sohn des ehemaligen obersten Würdenträgers von San Pedro ist, wußte wohl, daß er hierher zurückkehren würde, und erwartete ihn zusammen mit zwei getreuen Gefährten niederen Standes, die von demselben Feuer der Rache beseelt waren wie er. Tagsüber Heß sich nicht viel ausrichten, denn Murillo war überaus vorsichtig und ging ohne seinen Trabanten Lucas, oder vielmehr Lopez, wie dieser sich in den Tagen seiner Machtfülle noch genannt hatte, nie aus. Nachts jedoch schlief er allein, und dann konnte ein Rächer Hand an ihn legen. An einem bestimmten, vorher vereinbarten Abend übersandte ich meinem Freund die letzten Instruktionen, denn der Mann war ständig auf der Hut und wechselte öfters das Schlafzimmer. Ich sollte dafür besorgt sein, daß alle Türen offen waren, und ein grünes oder weißes Licht in einem Fenster, das auf die Einfahrt blickte, sollte ihm signalisieren, ob alles in Ordnung war oder ob der Anschlag besser auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden sollte.
Doch es ging alles schief. Aus irgendeinem Grund hatte ich den Verdacht des Sekretärs Lopez erregt. Er schlich mir nach und stürzte sich auf mich, als ich eben meine Mitteilung fertiggeschrieben hatte. Er und sein Gebieter schleiften mich in mein Zimmer, wo sie über mich zu Gericht saßen und mich des Verrats schuldig befanden. Sie hätten mich wohl auf der Stelle mit ihren Messern durchbohrt, wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätten, sich den Folgen einer solchen Tat zu entziehen. Endlich, nach langen Erörterungen, kamen sie zu dem Schluß, daß meine Ermordung zu gefährlich wäre. Sie beschlossen jedoch, sich Garcias ein für allemal zu entledigen. Sie hatten mich geknebelt, und Murillo verdrehte mir den Arm, bis ich ihnen die Adresse verriet. Bei meiner Seele, er hätte ihn mir gleich ganz abdrehen können, hätte ich gewußt, was Garcia bevorstand. Lopez schrieb die Adresse auf den Brief, den ich verfaßt hatte, versiegelte ihn mit Hilfe seines Manschettenknopfes und ließ ihn durch José, den Diener, überbringen. Wie sie ihn ermordet haben, weiß ich nicht; sicher ist nur, daß er durch Murillos Hand gefallen ist, denn Lopez war bei mir geblieben, um mich zu bewachen. Ich nehme an, er hat ihm bei den Stechginsterbüschen, zwischen denen der Weg sich hindurchschlängelt, aufgelauert, und als Garcia da vorbeikam, hat er ihn niedergemacht. Zuerst hatten sie vor, ihn das Haus betreten zu lassen und ihn als auf frischer Tat ertappten Einbrecher zu töten; dann überlegten sie sich jedoch, daß im Falle einer polizeilichen Untersuchung ihre wahre Identität unweigerlich ans Licht der Öffentlichkeit käme, wodurch sie weiteren Anschlägen ausgesetzt würden. Von Garcias Tod erhofften sie sich allerdings auch eine abschreckende Wirkung auf andere und somit das Ende ihrer Nachstellungen.
Damit wäre für sie nun alles in Ordnung gewesen, hätten sie nicht in mir eine Mitwisserin ihrer Tat gehabt. Ich habe keinen Zweifel, daß mein Leben zu Zeiten an einem dünnen Faden hing. Sie sperrten mich in meinem Zimmer ein, versetzten mich mit entsetzlichsten Drohungen in Angst und Schrecken, mißhandelten mich aufs grausamste, um meinen Lebensmut zu brechen – sehen Sie nur diese Stichwunde hier in meiner Schulter und die blauen Flecke, mit denen meine Arme von oben bis unten bedeckt sind –, und als ich einmal aus dem Fenster um Hilfe zu rufen versuchte, stopften sie mir