Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan Doyle
All dies habe ich teils durch Dorfklatsch, teils durch eigene Beobachtung in Erfahrung gebracht. Es gibt kein willigeres Werkzeug als einen entlassenen, von Groll erfüllten Diener, und ich hatte das Glück, so einen aufzugabeln. Ich rede von Glück, aber natürlich wäre es mir kaum über den Weg gelaufen, wenn ich nicht danach Ausschau gehalten hätte. Jeder hat so seine Methode, wie Baynes zu sagen pflegt. Und meiner Methode ist es zu verdanken, daß ich John Warner, den ehemaligen Gärtner von High Gable, aufgegabelt habe, der von seinem anmaßenden Brotherrn in einer Aufwallung von Zorn gefeuert worden war. Er wiederum hatte Freunde unter dem Hauspersonal, das dem Herrn ohne Ausnahme mit Furcht und Abscheu gegenübersteht. Und damit hatte ich meinen Schlüssel zu den Geheimnissen des Hauses.
Seltsame Leute, Watson! Ich will nicht behaupten, daß mir schon alles bis ins letzte klar ist, aber seltsame Leute sind sie allemal. Das Haus hat zwei Flügel, und die Dienerschaft lebt in dem einen, die Familie im anderen. Die beiden Gruppen kommen nicht miteinander in Berührung, mit Ausnahme von Hendersons Leibdiener, welcher der Familie das Essen serviert. Alles wird zu einer bestimmten Tür gebracht, der einzigen Verbindung zwischen den beiden Hausteilen. Die Gouvernante und die Kinder gehen kaum je außer Haus, es sei denn in den Garten. Henderson macht keinen Schritt ohne Begleitung. Sein dunkler Sekretär ist wie sein Schatten. Unter der Dienerschaft wird gemunkelt, der Hausherr habe eine entsetzliche Furcht vor irgend etwas. ›Hat dem Teufel für Geld seine Seele verkauft‹, sagt Warner, ›und fürchtet sich jetzt, daß sein Gläubiger auftaucht und sein Eigentum verlangt.‹ Niemand hat die leiseste Ahnung, woher diese Leute kommen oder wer sie sind. Sie sind äußerst gewalttätig. Henderson ist schon zweimal mit der Hundepeitsche auf jemanden losgegangen, und nur sein voller Geldbeutel und großzügige Abfindungen haben verhindert, daß er vor Gericht kam.
Und nun, Watson, wollen wir unsern Fall einmal im Licht dieser neuen Informationen betrachten. Es ist so gut wie sicher, daß der Brief aus diesem merkwürdigen Haus kam und eine Aufforderung an Garcia war, einen bereits geplanten Anschlag auszuführen. Wer hat diese Mitteilung geschrieben? Es war jemand im Innern der Festung, und es war eine Frau. Wer anderes kann es gewesen sein als Miss Burnet, die Gouvernante? All unsere Überlegungen scheinen in diese Richtung zu weisen. Auf jeden Fall dürfen wir dies als Hypothese annehmen und schauen, was für Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Ich darf hinzufügen, daß meine erste Vermutung, es könnte eine Liebesgeschichte in diese Sache hineinspielen, aufgrund des Alters und der Wesensart von Miss Burnet mit Sicherheit als nichtig ausgeschlossen werden kann.
Wenn sie die Nachricht geschrieben hat, so war sie vermutlich eine Freundin und Verbündete von Garcia. Wie dürfte sie sich also verhalten haben, als sie von seinem Tod erfuhr? Falls seine Unternehmung eine verbrecherische war, so kam wohl kein Wort über ihre Lippen. In ihrem Herzen blieben aber gleichwohl Bitternis und Haß gegen diejenigen zurück, die ihn getötet hatten, und soweit dies in ihrer Macht stünde, würde sie wohl helfen, ihn zu rächen. Könnten wir sie also aufsuchen und für unsere Zwecke einzuspannen versuchen? Dies waren meine ersten Gedanken. Aber damit kommen wir zu einem düsteren Kapitel. Miss Burnet ist seit der Mordnacht von keiner Menschenseele mehr gesehen worden. Sie ist seit jenem Abend wie vom Erdboden verschwunden. Lebt sie überhaupt noch? Hat sie vielleicht in derselben Nacht den Tod gefunden wie ihr Freund, den sie herbeigerufen hatte? Oder wird sie lediglich gefangengehalten? Das ist der Punkt, den wir noch klären müssen.
Ermessen Sie die Schwierigkeit der Lage, Watson. Wir haben keinerlei Handhabe für einen Haussuchungsbefehl. Unsere ganze Theorie würde einem Richter wohl als Hirngespinst erscheinen. Das Verschwinden der Frau hat kein Gewicht, da es in diesem seltsamen Haushalt durchaus vorkommen kann, daß eines seiner Mitglieder eine Woche lang unsichtbar bleibt. Und doch könnte es sein, daß sie sich jetzt in diesem Augenblick in Lebensgefahr befindet. Doch ich kann nichts anderes tun, als das Haus im Auge zu behalten und meinen Agenten Warner beim Tor Wache halten zu lassen. Aber wir können es nicht dulden, daß eine derartige Situation andauert. Wenn das Gesetz nichts tun kann, so müssen wir eben auf eigene Gefahr handeln.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Ich weiß, wo ihr Zimmer liegt. Es ist vom Dach eines Nebengebäudes aus erreichbar. Mein Vorschlag ist, daß Sie und ich heute abend dorthin gehen und ins Zentrum des Rätsels vorzudringen versuchen.«
Ich muß gestehen, daß mich diese Aussicht wenig lockte. Das alte Haus mit seiner mordschwangeren Atmosphäre, seine eigenartigen und furchterregenden Bewohner, die unbekannten Gefahren auf dem Weg dorthin und die Tatsache, daß wir uns rechtlich gesehen in eine schiefe Lage brachten, dies alles wirkte zusammen und dämpfte meinen Eifer doch erheblich. Aber es lag etwas in Holmes' messerscharfer Argumentationsweise, das es unmöglich machte, von einer Unternehmung, die ihm wichtig schien, Abstand zu nehmen. Man wußte einfach, daß sich so, und nur so, eine Lösung finden würde. Ich drückte ihm also schweigend die Hand, und damit waren die Würfel gefallen.
Doch sollte unseren Ermittlungen kein so abenteuerliches Ende beschieden sein. Es war ungefähr fünf Uhr, und der Märzabend begann schon hereinzubrechen, als ein aufgeregter Mann in ländlichem Aufzug zu uns ins Zimmer stürzte.
»Sie sind weg, Mr. Holmes. Sie sind mit dem letzten Zug gefahren. Die Lady hat sich losgerissen; ich hab sie unten in 'ner Droschke.«
»Ausgezeichnet, Warner!« rief Holmes, von seinem Stuhl aufspringend. »Watson, die Lücken schließen sich zusehends.«
In der Droschke saß eine Frau, die vor nervlicher Erschöpfung beinahe zusammenbrach. Ihr adlerartiges, ausgezehrtes Gesicht trug die Spuren einer eben erst durchlittenen Tragödie. Ihr Kopf lag matt auf ihrer Brust, als sie ihn aber hob und ihren trüben Blick uns zuwandte, bemerkte ich, daß ihre Pupillen wie winzige Punkte in einer großen, grauen Iris schwammen. Sie stand unter der Wirkung von Opium.
»Ich hab aufgepaßt am Tor, genau wie Sie mich geheißen haben, Mr. Holmes«, sagte unser Kundschafter, der entlassene Gärtner. »Als der Wagen herauskam, bin ich ihm zum Bahnhof gefolgt. Sie war wie eine Schlafwandlerin, aber als sie dann versucht haben, sie in den Zug zu kriegen, ist sie plötzlich lebendig geworden und hat sich gewehrt. Sie haben sie in ein Abteil gestoßen, aber sie konnte sich wieder herauskämpfen. Da hab ich ihr geholfen, sie in eine Droschke gesetzt, und da wären wir nun. Das Gesicht am Fenster des Abteils, als ich mit ihr weggefahren bin, das werd ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich hätt wohl nicht mehr lange zu leben, wenn's nach ihm ginge, dem schwarzäugigen, scheelen gelben Teufel dem!«
Wir trugen Miss Burnet nach oben, legten sie auf das Sofa, und ein paar Tassen sehr starken Kaffees befreiten ihren Geist bald aus der Benebelung durch das Rauschgift. Holmes hatte Baynes herbeirufen lassen und ihm die Situation in aller Kürze erklärt.
»Nun, Sir, damit verschaffen Sie mir genau die Zeugenaussage, die mir noch gefehlt hat«, sagte der Inspektor mit Wärme und schüttelte meinem Freund die Hand. »Ich war von Anfang an auf derselben Fährte wie Sie.«
»Was? Sie waren hinter Henderson her?«
»Nun, Mr. Holmes, als Sie in High Gable im Gebüsch herumgekrochen sind, habe ich in der angrenzenden Schonung auf einem Baum gesessen und auf Sie hinabgeschaut. Es ging nur noch darum, wer von uns als erster einen Beweis in der Hand haben würde.«
»Aber weshalb haben Sie dann den Mulatten festnehmen lassen?«
Baynes schmunzelte.
»Ich war mir sicher, daß Henderson, wie der Mann sich nennt, ahnte, daß man ihn verdächtigte, und, solange er sich in Gefahr fühlte, ruhig bleiben und keine weiteren Schritte unternehmen würde. Ich ließ den falschen Mann festnehmen, damit er sich in dem Glauben wiegte, wir kümmerten uns nicht mehr um ihn. Ich rechnete damit, daß er sich dann verdrücken würde und wir eine Chance hätten, an Miss Burnet heranzukommen.«
Holmes legte dem Inspektor die Hand auf die Schulter.
»Sie werden es weit bringen in Ihrem Beruf; Sie haben Instinkt und Intuition«, sagte er.
Baynes errötete vor Freude.
»Ich hatte die ganze Woche über einen Beamten in Zivil am Bahnhof stehen. Wo immer die Leute von High Gable hingehen mögen, er wird sie nicht aus den Augen verlieren.