Das Zillebuch. Hans Ostwald
eine Siebzehnjährige mit Kind, singt dann ein etwas wehmütiges Lied von der Singuhr von Parochial (der Parochialkirche), dessen erster Vers das Leben vieler Kinder jener alten Berliner Gegend recht anschaulich malt:
Ick habe ooch jespielt als Kind!
Der Hof war jrau und kahl,
So wie die Höfe alle sind
Um Sankt Parochial.
De Mutter, die jing abends aus –
Ick weeß et nich, wohin – –
Ick saß de Nacht alleen zu Haus,
Alleen im Stübeken.
Ick jraulte mir – de Nacht war lang,
Im Ofen jing der Sturm,
Und stindlich bloß de Singuhr sang
Vom Parochialkirchturm:
28. Nach einer Originalzeichnung.
(Mit leisem Glockenspiel im Orchester und im Ton der Singuhr)
Ȇb' immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kiehles Jrab,
Und weiche keenen Finger breit
Von Jottes Weje ab –!«
Das Hauptlied schildert den Hofball selbst. Der erste Vers lautet:
Wo im Osten von Berlin
Uf der Spree die Zillen zieh'n,
Wo man jroße Weißen leert
Und den jrünen Aal verzehrt –
Da – da steht een Hinterhaus,
Da – da sehn viel Meechens raus,
Mit Jeschrei von Stock zu Stock:
Uff 'n Hof is Feifohklock ...!
»Mensch, heerst du den Jrammophong
Hinten uff'n Hof?
Da is heite Reünjong –
Da is heite Schwoof!
Brauchst dir nich jroß anzuziehn,
Lacktöppe dabei –:
Heite jeht's uff Holzpantin!
Bis de Nacht um drei! –!«
Der zweite Vers gibt die Höhe des Festes:
Mutta tanzt wie wild sich warm,
Mit det Jüngste uff'n Arm!
Vater spielt im Hausflur Skat
Mit die Herrn vom Mieterrat!
Maxe rechts am Stall vahaut
Eenen wejen seine Braut!
Alles schiebt und tanzt mit Dampf –
Else hat schon Wadenkrampf!
29. Rechtfertigung. –
»und vorige Woche sollste auf der Radio-Diele die Nackttänzerin jemacht hab'n?«
»Sache! – aber gestatte Emil – immer mit dem Brautschleier!«
Nach dem Original.
Und im vierten und letzten Vers wird der Nachklang des Festes umschrieben:
Um halb viere jeht's zu Bett –
Mit de Lackschuh – mit's Korsett!
Else träumt von die Musik –
Bald ja pfeift schon die Fabrik!
Träumt vom Hofball Berlin 0. –
Träumt von ihrem Max und so:
»Knutsch mir! Heute is Ausverkoof!
Küß' ooch orntlich –! Nich so dof ...!«
Von den andern Liedern sei hier nur der letzte Vers des Liedes vom Nußbaum mitgeteilt. Das gibt recht hübsch die Stimmung dieser alten, jetzt vom Magistrat der Stadt Berlin angekauften und als Denkmal bestimmten, aus dem 16. Jahrhundert stammenden Gastwirtschaft: »Zum Nußbaum« wieder. Sie liegt in dem alten Berliner Viertel zwischen Friedrichsgracht, Gertraudenstraße und An der Fischerbrücke. (Bild Nr. 110.) Im letzten Vers des Liedes wird sie geschildert:
Im Nußbaum links vom Molkenmarcht –
Die ihr so oft eich dort verbarcht,
Jrießt mir die Prachtdestille!
Durch meine Zelle zieht een Traum –
Jrießt mir det Haus – den jrienen Baum
Und ooch den Vater Zille!
Aus den Figuren des Stückes darf man aber nicht den Schluß ziehen, als habe Zille ganz Berlin nur mit fragwürdigen Gestalten bevölkern wollen. Er sah als Künstler eben nicht nur Glanz und Sonnenschein, sondern auch die Tiefen des menschlichen Lebens. Aber deswegen ist er auch empört über die Manie, ihn zum Heiligen der Apachen machen zu wollen und als Zillegestalten nur Kaschemmenbrüder darzustellen.
Schon der Hofball bei Zille hatte vieles von diesem Unechten und gar zu Aufdringlichen gebracht. Die elegantesten Damen hatten sich zurechtgemacht als Fischerliese oder Bollenjuste. Der Name stammt nicht von einer Händlerin mit Bollen, d. h. Zwiebeln, sondern war Spitzname eines Straßenmädchens, das mit »Bollen«, mit Löchern in den Strümpfen auf den Strich im alten Scheunenviertel ging. Die Herren kamen als Apachenjüngling, als Patentlude und Saloneinbrecher. Die Haare dick mit Pomade verschmiert und 'ne kesse Sechse in die Stirn gezogen. Viele hatten sich eine künstliche Tätowierung auf Hände und Arme malen lassen. Die meisten aber glaubten, mit einem »blauen« Auge den größten Eindruck zu schinden.
Fast die gleichen Kostüme tauchen in jedem Jahr zu Hunderten auf dem Zilleball im Sportpalast auf. Manche Mädchen kommen auch in allen möglichen und unmöglichen Hosenkostümen: als Matrose, als Strolch, als Badeengel aus dem Freibad. Allerdings finden sich unter den Tausenden, die den Zilleball mit fröhlichem Karnevalulk, unverwüstlicher Tanzlust und mit derber Faschingslust erfüllen, auch recht viele wirklich gut und echt nach Zille »Angezogene«, Harfenjulen, die unbedenklich sich häßlich machen, alte Jungfern, die »über den Mann hinaus sind«, Budiker in Hemdsärmeln und blauer Schürze, alte Penner, »Damen« aus dem Scheunenviertel und aus der Parochialritze, Brüder aus dem »Nussbaum« und »Immertreu«-Leute aus der Koppenstraße, Kinder aus der Ackerstraße, vierter Hof, und noch mancherlei Volk vom Rummelplatz und Weihnachtsmarkt: Ringkämpfer, Ausschreier und die dickste Frau der Welt, Wandervögel und liebliche Zillemädchen. Sie alle sind hereingekommen mit der Polizeianmeldung, die umstehend wiedergegeben ist.
Sie alle wandern unentwegt an dem Tisch vorbei, an dem Zille mit einigen Freunden sitzt. Und dann Paukenschläge – Tusch – und alles ruft »Hoch Zille! Hoch Vater Zille!«
Und er erhebt sich und dankt mit freundlichem Lächeln und immerwährenden Verbeugungen.
Dann aber drängen sie zu Hunderten an die Balustrade und reichen ihm Postkarten, ja selbst feuchte Bierfilze, Notizblätter und auch Papierfetzen hin, die sonst zu geheimen Zwecken gebraucht werden. Unentwegt muss er unterschreiben. Immer wieder strecken sich ihre bittenden Hände hin und verlangen seinen Namenszug. Er, der schon schwach und müde auf seinem Stuhl lehnt, muss stundenlang seinen Namen malen und malen ... Immer wieder halten sie ihm
30. »Annekin, Annekin, drück doch mal, drück doch mal aufs Knöppkin!«
Studie aus einem »Ballsalon«.
Nach