Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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kann. Wenn also ein Schattenwesen wie ein Nachtalb für den Zustand deiner Schwester verantwortlich ist, dann würde ich dort nach einer Lösung suchen. In der Welt der Monster.«

      Edgars Magen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Der grüne Trank schien ihn in die Tiefe zu ziehen. Er war weit gereist – hatte Bücher gewälzt, Städte besucht und Menschen be­­fragt – alles, um Helene zu retten. Und er war keinen Schritt vorwärts­gekommen. Jetzt, mit siebenundzwanzig Jahren, war das Gefühl, sich im Kreise zu drehen, übermächtig geworden. Was, wenn er niemals eine Lösung für den Zustand seiner Schwester finden würde? Was, wenn er irgendwann sterben würde und sie ganz allein zurücklassen müsste? Allein in einer Welt, der sie entrückt war. Ohne Gefühle, ohne Liebe, ohne Schutz. Ein endloses, unsterbliches Dasein, ohne Hoffnung auf Erlösung. »Ich habe nicht genügend Zeit …«

      »Ah«, sagte Großmütterchen Jadwiga. »Da haben wir es.«

      Edgar hob den Blick. »Was?«

      »Dein Anliegen«, lächelte sie.

      Edgar blinzelte und fühlte, wie die Tasse in seinen Fingern heiß und schwer wurde. Zögernd sah er hinab. Sie war wieder randvoll mit dem smaragdgrünen Getränk. »Ich verstehe nicht«, sagte er und schwenkte die Flüssigkeit. Sie schwappte tanzend hin und her.

      Großmütterchen Jadwiga sagte nichts, sondern deutete auf die Tasse. Edgar verstand und stürzte den Inhalt hinunter. Ein selt­­sames Kribbeln überkam ihn. Es erfasste seinen ganzen Kör­per und ließ die Haut prickeln.

      »Du liebst deine Schwester sehr«, sagte Großmütterchen Jadwiga leise.

      »Ja.«

      »Und du würdest alles für sie tun, nicht wahr?«

      Edgar nickte.

      »Was wir aus Liebe tun, ist niemals falsch«, sagte die Alte. »Ich kann dir Zeit verschaffen. Dann kannst du nach einer Lösung für dein Problem suchen.«

      In der darauffolgenden Stille hörte Edgar das Feuer im Ofen knacken. »Was schlagt Ihr vor?«

      Großmütterchen Jadwiga beugte sich vor. »Ich besitze ein Elixier, das die Zeit anhalten kann. Wer es trinkt, altert nicht. Verletzungen und Wunden heilen schneller und man bleibt so jung und stark wie an jenem Tag, an dem man den Trank zum ersten Mal zu sich genommen hat.«

      Edgar hob eine Augenbraue. »Ewiges Leben?«

      »Nicht ganz«, wandte Großmütterchen Jadwiga ein. »Mein Trank verlängert das Leben – er lässt es nicht ewig währen. Sonst kämen wir wieder mit Gevatter Tod in Konflikt. Der Trank verliert mit den Jahren seine Wirkung, aber wenn man genug davon trinkt und immer wieder und wieder …« Ihre Stimme ähnelte einem Echo.

      »Und Ihr würdet mir den Trank überlassen?«

      »Wenn der Preis stimmt.«

      Ein kurzes Schweigen. »Was verlangt Ihr?«

      Großmütterchen Jadwiga schwieg. Es war kaum zu ertragen.

      »Ihr könnt alles von mir haben«, sagte Edgar. »Nennt Euren Preis.«

      Die alte Frau bleckte die Zähne und schenkte ihm ein Lächeln, das schmerzte. »Deine unsterbliche Seele.«

      Edgar lachte auf. »Ist das Euer Ernst?«

      Großmütterchen Jadwiga gab keine Antwort.

      »Und Gevatter Tod?«

      »Was kümmern ihn die Entscheidungen der Lebenden? Wenn wir zwei einen bindenden Vertrag aushandeln und mit Blut besiegeln, kann nicht einmal das alte Knochengesicht etwas dagegen sagen. Wir nehmen ihm nichts weg, wir verzögern die Sache nur. Er kommt schon zu seinem Recht.« Sie zwinkerte. »Das tut er immer.«

      Edgar schwieg lange. Sein Blick wanderte hinüber zum geöffneten Fenster, hinter dem ein unbarmherziger Winter lauerte. Er dachte an Helene. Sie befand sich mehrere Kilometer entfernt in ihrem Wagen, der vor den Toren von Smolensk abgestellt war. Obwohl es tiefschwarze Nacht war, würde sie nicht schlafen. Ihre Augen wären weit geöffnet und ausdruckslos wie die einer Eule. Und das würde so weitergehen. Für immer.

      »Ihr könnt meine Seele haben«, sagte er. »Wenn meine Aufgabe auf Erden erledigt ist – wenn meine Schwester erlöst ist.«

      Großmütterchen Jadwiga atmete auf. »Das ging schneller, als die letzten Male.« Sie erhob sich und wackelte hinüber zum Ofen und ihrem brodelnden Kessel. Sie warf Kräuter und Gewürze in das kochende Wasser und rührte darin herum. Ein herber Geruch verteilte sich im ganzen Raum.

      »Und jetzt?«, fragte Edgar.

      Großmütterchen Jadwiga rührte weiter. Ewigkeiten.

      Edgar stellte seine Tasse ab und ging zu ihr. Leider passte sich das Inventar nicht seiner Größe an, sodass er eine gebückte Hal­tung vor dem Ofen einnehmen musste. Er starrte auf den Inhalt des Kessels. Da war ein Sud, goldbraun und seidig. Er funkelte und glitzerte geheimnisvoll. »Ist das der Trank?«

      »Das ist mein Abendessen, Dummkopf«, sagte Großmütter­chen Jadwiga.

      »Und der Trank?«

      Die alte Frau deutete auf die kleine Tasse, die auf dem Tisch stand. »Das meiste davon hast du bereits getrunken. Zwei Tassen von dem grünen Sud. Das reicht für die ersten zweihundert Jahre. Mehr davon findest du draußen im Schnee. Dort steht ein Karren für dich bereit. Mehr habe ich nicht.«

      Edgars Atem ging schneller. Ein ganzer Karren? Wenn zwei winzige Tassen für zweihundert Jahre reichten, für wie lange würde dann ein ganzer Karren reichen?

      »Du hörst nicht richtig zu«, knurrte die Alte, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. »Mein Haus ist ein besonderer Ort. Alles, was sich hier befindet, gehört nicht in die Welt der Menschen. Eine kleine Tasse hier bedeuten mehrere Liter da draußen. Wundere dich also nicht, wenn es dir in den nächsten Tagen sehr, sehr schlecht geht. Nach menschlichen Maßstäben hast du etliche Tage ohne Unterlass getrunken.«

      Edgar schnappte nach Luft.

      »Der Zauber wird wirksam, sobald du den Vertrag unterschrieben hast«, sagte sie und wies auf den Tisch.

      Edgar ging hinüber und suchte nach einem Schriftstück, doch er fand keines. Da stand nur die Tasse auf goldenem Grund.

      »Sieh hin«, brummte Großmütterchen.

      Edgar beugte sich tiefer hinab und besah sich die Tischplatte. Jede Maserung, jede Erhebung und jede Unebenheit bestand aus massivem Gold. Fein gearbeitet und täuschend echt. Und versteckt im Firnis befanden sich Linien. Eine schräge, wohlbekannte Handschrift: Edgars.

      Dort standen Sätze. Dutzende davon, so als hätte ein Floh die gesamte Unterhaltung der letzten Minuten in das Metall eingeritzt. Von dem Teil, wo Edgar um Hilfe gebeten hatte, bis hin zu seinen eigenen Worten:

      Edgars Herz raste. Der Trank in seinem Magen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Panik ergriff ihn. Wie sollte er unterschreiben? Es gab keine Schreibfeder oder Anweisung. Seine Finger berührten die Stelle unter dem letzten Satz und ein kleiner Schmerz durchzuckte ihn. Überrascht zog er seine Hand zurück. Ein goldener Splitter steckte in der Spitze seines Fingers. Und wo er das Gold berührt hatte, stand nun ein Name, geschrieben mit Blut:

      »Oh!« Sein Magen machte ein seltsames Geräusch.

      Ein weiterer Name erschien. Edgars Augen tränten, als er versuchte, ihn zu entziffern.

      »Du solltest jetzt gehen«, sagte Großmütterchen Jadwiga, den Kopf über den Kessel mit Brühe gebeugt. »Mach bitte keine Pfütze wie beim letzten Mal. Der Teppich ist neu.«

      Edgar stürzte durch den Vorraum zum


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