Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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absurde Mischung aus Wurzelgemüse und Pflanzen­geschöpf öffnete zwei faltige Äuglein, die nicht größer waren als Maikäfer, und gab einen gellenden, übelriechenden Schrei von sich. Er dröhnte wie ein Wehklagen durch das Gasthaus und ließ das Fensterglas erzittern.

      Rita senkte ihren Körper auf den Kronleuchter herab. Der schwere, doppelt geschwungene Reif aus Eisen schwang hin und her und sorgte dafür, dass die Aufhängung im Querbalken wie die Ketten eines Schlossgespenstes rasselte. Als der Leuchter zur Ruhe gekommen war, brachte Rita ihr Schießeisen in Position. Sie wollte bereits den Abzug betätigen, als ein Körper in ihr Schussfeld geriet: Kante! Die Fangarme hatten ihn, Tonke, Stiller und auch Jauche gepackt und in die Luft gehoben. Sie zappelten und schrien – alle bis auf Jauche, der verzweifelt an seiner Messerwaffe herumnestelte. Der Abzug schien zu klemmen. Irgendwann warf er die Waffe von sich und langte nach einem der Messer, die überall in der Holzvertäfelung steckten. Er begann die Ranken von Hand zu zerschneiden.

      Die Kreatur stöhnte und schüttelte die Männer. Sie baumelten wie überreife Äpfel in der Luft und näherten sich bedrohlich dem Maul des Ungeheuers.

      Rita erhob den Brezelwächter und zielte auf den Kopf. Fang­arme schoben sich vor ihr Visier, dann Tonkes Brust, anschließend Kantes Allerwertester, gefolgt von Stillers Kopf.

      »Verdammt, so wird das nichts!« Rita warf den Tragriemen der Waffe über die Schulter und zog sich auf den Querbalken zurück, auf der Suche nach einem besseren Schusswinkel. Doch sie fand keinen. Immer war einer der vier Männer im Weg und blockierte ihr die Sicht.

      Plötzlich mischte sich etwas Neues in die Szenerie. Ein lärmendes Geräusch, ängstlich und fremdartig. Es erinnerte entfernt an einen Warnruf: ein Quäken, ein Schnarren, ein Zarren und Pleurren.

      Ein Vogel mit schwarz-weißem Gefieder segelte herbei. Er tauchte aus dem Nichts auf und stieß hinab auf den Kopf der Mimose. Rita kniff die Augen zusammen. Eine Elster, zweifellos. Aber wie war sie hier hereingekommen? Etwa durch den Schornstein?

      Wieder und wieder stieß das Tier hinab und sorgte dafür, dass sich der Kopf des Pflanzenwesens mehrmals um sich selbst drehte, bis er vor Schwindel bebte. Die Männer, die an den Fangarmen hingen, wurden gehörig durchgeschüttelt.

      Die Mimose langte nach der Elster. Doch bevor eine der Ran­­ken den Vogel erreichte, wurde das Ungetüm von etwas ge­­troffen.

      BLAMM!

      Kleine Glasgeschosse verspritzten eine leuchtend blaue Flüssigkeit und sorgten dafür, dass die Fangarme auf der Stelle vereisten.

      Der Kopf der Kreatur reckte sich und versuchte, den neuen Angreifer ausfindig zu machen. Rita suchte ihrerseits nach dem Schützen und fand ihn: Es war ein bleiches Mädchen, nicht älter als dreizehn Jahre, mit langen kohlrabenschwarzen Haaren. Es trug ein Kleid, das im Kerzenschein wie frisches Blut schimmerte. Das Mädchen stand inmitten der unzähligen Fangarme und hielt eine gläserne Armbrust im Anschlag. Es erhob die absonderliche Waffe und zielte auf das Gesicht der Kreatur.

      »Der Vogel gehört zu mir.«

      BLAMM!

      Ein bläulich glühendes Geschoss zischte durch die Luft und wurde im letzten Augenblick von einer dicken Dornenranke abgewehrt. Die Kreatur fauchte, keifte und bemerkte dann, dass das Mädchen nicht allein war.

      Ein weiteres Mädchen hüpfte und sprang wie ein Floh zwischen den Dornenranken herum. Dieses Mädchen war jünger – vermutlich nicht älter als acht Jahre. Es hatte wilde, dunkle Zöpfe und hielt im Getümmel nach irgendetwas Ausschau.

      Sofort attackierte die Pflanzenkreatur das kleine Mädchen. Ein gewaltiger Tentakel mit nadelspitzen Dornen rollte auf es zu und bohrte sich auf seinem Weg in den Holzboden.

      »Vorsicht!«, rief Rita und zielte mit dem Brezelwächter auf den Fangarm. Doch bevor sie abdrücken konnte, sprang ein hochgewachsener Junge mit einem Salto herbei. Er landete auf einem großen Rankenarm und benutzte ihn wie eine Rampe. Er schlitterte herunter, rasierte dabei einige der Dornen mit den Hacken seiner Schuhe ab und packte das kleine Mädchen im Vorbeirutschen, bevor es von der anderen Ranke zerquetscht wurde.

      RUMS!

      Rita beobachtete, wie der Junge im hinteren Teil des Schank­raums absprang und zum Stehen kam. Da sie von ihrer gegenwärtigen Position kaum etwas hören konnte, kletterte sie durch das Gebälk, bis sie über den Köpfen der Kinder angekommen war.

      Den Jungen schätzte die Wirtin auf vierzehn oder fünfzehn Jahre. Er war ein Bild in Schwarz und Weiß, trug eine silberne Fellweste und hatte einen hohen Käfig auf dem Rücken. Rita musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, was sich darin befand: ein grauer Boogelbie! Wer um alles in der Welt war so verrückt, einen Boogelbie mit sich herumzutragen? Offenbar war das Wesen nicht sonderlich begeistert von dem Salto seines Besitzers – die gelben Glubschaugen rollten in den Höhlen hin und her und die violette Zunge hing weit aus dem Maul, als ob es sich jeden Moment übergeben würde.

      »Was soll das, Moritz?! Lass mich sofort runter!«, rief das kleine Mädchen.

      »Oh, Verzeihung«, erwiderte der Junge und setzte es ab. »Das nächste Mal sehe ich einfach zu, wie du von einer Mimose zerquetscht wirst!«

      Ein dornenbewehrter Fangarm schnellte auf ihn zu. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er einen Stab mit Schwertklinge gezückt und hackte ihn der Länge nach in zwei Hälften. Die Mimose schrie vor Schmerz.

      »Konstanze, wir hatten eine Abmachung: Ich kämpfe gegen die Mimose und du bringst die Leute in Sicherheit! Jeder hat seinen Platz.«

      Das Mädchen mit Namen Konstanze sah einen Tentakel auf sich zukommen und trat genau im richtigen Moment zur Seite. Der Tentakel bohrte sich in einen Stützpfeiler hinter ihr. »Ich weiß, wo mein Platz ist. Und ich kann den Leuten nur helfen, wenn du sie da oben runterholst!« Sie deutete auf die kopfüber baumelnden Männer.

      »Oh, verstehe«, murmelte der Junge und lächelte schief. »Entschuldige mich bitte.« Damit warf er sich ins Getümmel.

      Rita beobachtete, wie das Mädchen wütend davonstapfte. Es schien sich nicht dafür zu interessieren, dass es um ein Haar von einer Ranke getroffen worden wäre. Es pfiff zwei Mal – sofort flog die Elster zu ihm.

      »Edgar, wir müssen die Leute hier rausbringen. Öffne die Hintertür!«, sagte das Mädchen.

      »Scha-rack!«, antwortete die Elster.

      Rita stutzte. Kinder, die sich mit Monstern anlegten? Aber sie schienen sich damit auszukennen. Welches kleine Mädchen kannte schon Mimosen und Boogelbies? In Bad Greifenstein war man auf Derartiges vorbereitet, doch die Kinder stammten nicht von hier.

      Sie hatte genug gehört und sprang von den Dachbalken hinab. »Lasst die Türen geschlossen.«

      Die Elster stieß einen Warnschrei aus und das Mädchen reagierte schnell. Es wirbelte herum und trat Rita gegen das Schienbein.

      »Au! Hör auf! Ich tu dir nichts!«

      Das Mädchen starrte sie atemlos an. »Wer bist du und warum schleichst du dich so an?«

      »Ich bin Rita«, sagte sie. »Mir gehört dieser Laden.«

      »Oh, das tut mir leid«, erwiderte das Mädchen mit einem Blick auf den Trümmerhaufen.

      »Mir auch«, murmelte Rita. »Ist bereits das dritte Mal dieses Jahr und wir haben gerade mal September.«

      »Immer Mimosen?«

      »Meistens Feuerspeier und Dickschädel.«

      Das Mädchen nickte stumm. Es verhielt sich wie ein Kenner, dem man nicht erklären musste, dass ein Feuerspeier kein Fakir und ein Dickschädel kein Mathematikprofessor war. »Warum sollen die Türen geschlossen bleiben?«

      Rita kniff die Augen zusammen. »Damit nicht noch mehr von den Biestern hereinkommen.«

      Das Mädchen verstand. »Was tun wir dann?«

      »Wir


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