Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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im tiefen Schnee.

      Draußen wartete ein Karren. Er war halb so groß wie ein Fuhr­­werk, verfügte am Kopfstück über zwei Traggabeln mit Gur­­ten und war unter dickem Weiß begraben. Edgars Magen wurde sekündlich schwerer. Durch dichte Flocken besah er sich die Ladung. Da waren Flaschen in allen Formen. Bauchige, läng­­liche, kleine, große, durchsichtige und vielfarbige. Und alle waren mit einer Flüssigkeit gefüllt, die smaragdgrün leuchtete.

      Edgar stöhnte, als ihn eine Welle aus Schmerz überkam. Die Flüssigkeit dehnte sich in seinem Bauch aus und drohte, ihn zu zerreißen. Er musste schnell weiter! Sich bewegen!

      Er spannte sich selbst vor den Karren und begann zu ziehen. Der Wagen rollte nur mühsam durch den knietiefen Schnee. Doch Edgar gab nicht auf. Er musste zu Helene, musste ihr erzählen, was er erlebt hatte und musste seine Suche fortsetzen. Durch die Worte der Hexe hatte er ein neues Ziel. Ein Monster, das ihm helfen würde, seine Schwester zu erlösen. Ein heilendes Wesen. Wo auch immer es stecken mochte, er würde es finden. Und wenn er jedes Buch, das jemals geschrieben worden war, und jeden Menschen, der lebte, befragen müsste.

      Über 300 Jahre später

      »Moritz, du hast da etwas.« Konstanzes Stimme drang durch das Brausen des Dampfwagens. Der Fahrtwind im Ausguck hoch über der Glaskuppel zerzauste Moritz’ schwarzes Haar, als er in der Dunkelheit auf den Weg vor ihnen spähte. Mit dem Finger deutete seine Schwester auf seine Schulter. Moritz wandte den Kopf, um zu erkennen, was dort saß. Ein Schattengeck.

      Die eigenwillige Mischung aus Raupe und Dompfaff starrte ihn mit kleinen Knopfaugen an, ihr dunkelrotes Gefieder wurde vom Wind zerwühlt. Die Kreatur war absolut harmlos, aber eindeutig zu anhänglich.

      Moritz nahm eine Hand vom Steuer, zupfte den Schattengeck von seiner Jacke und schnipste ihn vom Wagen. Er glaubte ein winziges HUIII! zu hören, während das Geschöpf in der Nacht verschwand.

      Konstanze starrte ihn entsetzt an.

      »Was?!«, schnaubte Moritz. »Der Kleine ist in fünf Minuten sowieso wieder da. Außerdem kann er fliegen.«

      Konstanze schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem grauen Boogelbie auf ihrem Schoß. Die Kreatur mit Namen Brummi schronzte schon seit geraumer Zeit aus voller Kehle. Seine leuchtend gelben Augen drehten sich nach außen und traten aus den Höhlen hervor. Wäre Moritz zu einer solchen Grimasse fähig, wäre auch ihm danach gewesen. Der Gestank, der in dieser Gegend herrschte, erinnerte an etwas, was vor langer Zeit in einer schmutzigen Ecke verendet war.

      Der Dampfwagen sauste eine finstere Schotterpiste entlang. Scharf rechts, dann links und wieder links. Mit einem Hüpfer verließ das monströse Konglomerat aus Kupfer, Holz und Glas die festgelegten Pfade, jagte eine Böschung hinunter und bretterte über eine Pflasterstraße. Eine Brücke kam in Sicht, das dazugehörige Namensschild am Straßenrand flog so schnell vorüber, dass Moritz es von oben kaum entziffern konnte. Sankt Grafen­schwein? Das klang nicht sonderlich einladend …

      Der Wagen passierte ein Stadttor und tauchte in einen von schummrigen Gaslaternen beleuchteten Irrgarten aus Sträßchen und Gässchen ein.

      Brummi wandte die Ohren und pleurrte dumpf.

      »Links!«, rief Konstanze.

      Moritz drehte eilig an der Kurbel neben seinem Sitz. Der Wagen legte sich in die Kurve, krängte wie ein Schiff in Seenot. Knapp schrammte er an einer Hauswand entlang und zog einen Funkenschweif hinter sich her, als er die Fassade touchierte.

      »Das andere Links!«, brüllte seine Schwester.

      Moritz stöhnte. »Also rechts!«

      »Sag ich doch!«

      Moritz kurbelte erneut, als die nächste Häuserecke auf sie zuschnellte. Einmal links, dann noch einmal links, immer im Kreis. Die Gebäude glitten in aberwitziger Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Der Dampfwagen schepperte und pfiff, seine Achsen glühten vor Anstrengung. Noch eine Kreuzung und sie waren wieder auf der richtigen Straße.

      »Jetzt rechts«, murmelte Moritz und begann in die entgegengesetzte Richtung zu steuern. Ächzend bog der Wagen ab, das Pflaster fegte unter ihnen hinweg.

      Brummis Ohren streckten sich. Er chracherte zweimal kurz, einmal lang.

      »Es ist nicht mehr weit!«, rief Konstanze und hielt sich die Nase zu. Der Gestank wurde stärker.

      Moritz hoffte, dass der alte Boogelbie sie nicht in die Irre führte. Und er hoffte, dass die Bremsen hielten, wenn er sie betätigte. Es würde ein Halt bei voller Fahrt werden.

      Sie waren einer Spur gefolgt – einer Spur toter Tiere über mehrere Höfe im Südwesten. Was auch immer für den Tod in dieser Gegend verantwortlich war, es hatte sie gehörig im Kreis herumgeschickt. Beinahe hatte es sich angefühlt, als ob man sie verfolgte, nicht umgekehrt. Der Gedanke war absurd, aber Moritz erschauderte. Inzwischen hielt er nichts mehr für unmöglich.

      Ein Blick auf den Sitz an seiner Seite ließ ihn erstarren. »Was wird denn das, wenn’s fertig ist?«

      Konstanze zurrte eine kleine Netzpistole mit einem Gurt an ihrer Brust fest. »Du hast gesagt, ich dürfte diesmal mithelfen!«

      »Helfen, aber nicht mit Waffen herumspielen!« Moritz warf einen Blick auf die Straße unter ihm und streckte die Hand aus. »Los, her damit!«

      »Aber …«

      »Sofort!«

      Konstanze verdrehte die Augen und reichte ihm die Waffe. Ihre gemurmelten Flüche gingen im Schnaufen des Dampfwa­gens unter.

      »Du darfst helfen, aber du musst tun, was ich sage.« Heftige Schläge erschütterten seine Stimme. »Deine Aufgabe ist es, dich um mögliche Verletzte zu kümmern. Du bringst die Menschen mit der Elster in Sicherheit.«

      »Edgar«, sagte Konstanze.

      »Wie bitte?«

      »Die Elster hat einen Namen. Sie heißt Edgar!«

      Moritz schluckte und verriss die Kurbel. Der Wagen geriet ins Trudeln – er tanzte über das Pflaster. Eilig packte Moritz den Griff des Steuers und stemmte sich dagegen, bis das Schlingern aufhörte.

      »Konstanze, wir haben keine Zeit für eine weitere Diskussion darüber.«

      »Warum weigerst du dich, ihn bei seinem Namen zu nennen?«

      Moritz stöhnte. »Es ist eine Elster, verflixt! Sie ist treu, klug, liebt Glitzerkram und hat schöne Federn, aber was viel wichtiger ist: sie gehört zu jemandem, auf den ich mich heute verlassen können muss. Keine Alleingänge, verstanden?«

      Der Boogelbie bewegte die Ohren und chracherte erneut. Eigentlich hätte Konstanze ihm nun die Richtung ansagen müssen, schließlich musste er sich auf die Straße konzentrieren – doch sie fixierte ihn über das Gerüttel des Dampfrosses hinweg. »Was stört dich an dem Namen Edgar?«

      Moritz holte tief Luft und bereute es im selben Moment. Der Gestank wurde immer erbärmlicher. »Gar nichts stört mich daran!« Er deutete auf den Boogelbie. »Könntest du dich jetzt bitte wieder auf deine Aufgabe konzentrieren?«

      Konstanze kniff die Augen zusammen und antwortete mit gerümpfter Nase: »Wir sind fast da.«

      Moritz nickte. Mit dem Schuh trat er gegen das Metall unter ihm. Zweimal. Im Fußraum öffnete sich eine schmale Luke und ein blasses vollkommenes Gesicht kam zum Vorschein. Violette Augen funkelten ihn an. Helene van Lichtholm.

      »Wie weit bist du?«

      »Ich habe eine Mischung aus blauem Mohn, Alraunen, Bilsenkraut und Alkohol zusammengebraut. Ich denke, das wird nützlich sein.«

      »Was ist, wenn du dich irrst?«

      Die Elster im Wageninneren keckerte leise und Helene schenkte ihm einen geheimnisvollen Blick. »Die Tiere hatten Stichwunden überall. Sie wurden erwürgt, ihre Köpfe auf den Rücken gedreht.


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