Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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ist das, was mein Bruder nicht ausstehen kann.« Das Mädchen lächelte breit. »Ich heiße Konstanze.«

      »Freut mich, junge Dame. Dann stutzen wir die Mimose mal zurecht«, sagte Rita und lud den Brezelwächter durch.

      Wo war Moritz? Helene ließ die Armbrust sinken. Die vereisten Fangarme er­­­­­­­starr­ten vor ihrem Gesicht und bildeten eine unheimliche Skulp­tur. Sie erinnerten an geschwungene, mit Dornen verzierte Schwa­nenhälse. Das Eis zerbrach, als sich die Fangarme bewegten, und ließ nur abgebrochene Tentakelspitzen zurück. Die Mimose heulte auf.

      Helene spähte durch das Dickicht. Das Durcheinander wand sich ohne erkennbares Muster und schien nur auf Zerstörung aus. Und mittendrin steckte Moritz! Er kämpfte sich vor, schnitt und hackte in die Tentakel und versuchte zum Zentrum des Monsters zu gelangen. Seinem Kopf.

      Helene schloss sich ihm an, feuerte die Glasgeschosse ab und sah zu, wie ihre selbstgebraute Mixtur wahre Wunder wirkte.

      BLAMM-BLAMM!

      Sofort stießen neue Dornenarme nach. Sie schlugen nach ihr, schnappten nach ihren Füßen und ihrer Waffe – doch Helene ließ sich nicht beirren. Sie lief weiter, auch wenn die Stacheln ihr blutrotes Kleid zerfetzten und ihre Haut aufritzten. Sie spürte keinen Schmerz. Einer der Vorteile, wenn man untot war.

      BLAMM!

      Die Ranken vereisten zwar, doch augenblicklich wuchsen wieder neue empor.

      »Moritz, das funktioniert nicht«, rief sie in das Gewühl. »Es sind zu viele!«

      Moritz wandte den Kopf. »Ich kümmere mich darum!«, brüllte er. »Hilf Konstanze!«

      BLAMM!

      Helene versuchte ein weiteres Mal, durch die Ranken zu gelangen. Es hatte keinen Sinn. Sie brauchten etwas Stärkeres.

      RATT-TATT-TATT!

      Die Fangarme vor ihr zerplatzten wie Kohlköpfe. Pflanzen­fasern spritzten überall hin.

      »Brauchst du Hilfe, mein Täubchen?«, fragte eine Stimme.

      Helene drehte sich um und entdeckte eine kolossale Frau. Sie trug eine Waffe um den Hals, die eine Mischung aus Schnaps­fässchen, Zapfhahn und doppelläufigem Ofenrohr war. Das Ge­­bilde wirkte tonnenschwer, doch die Frau hatte Oberarme wie Baumstämme. Neben der Fremden stand Konstanze. Sie hatte eine ähnliche Waffe in der Hand – allem Anschein nach die kleinere Schwester dieses wuchtigen Schießeisens.

      In Helenes Kopf entstand ein Bild: Es war, als ob hier Zukunft und Vergangenheit aufeinanderträfen. Konstanze und die fremde Frau schienen vom selben Schlag. Beide wirkten aufgeweckt, entschlossen und angriffslustig. Rotwangige Schönheiten, mit denen nicht zu spaßen war.

      »Ich brauche keine Hilfe«, sagte Helene, »aber er.« Sie deutete auf den Tumult, in dem Moritz kämpfte.

      »Dann sind wir hier richtig«, sagte die Frau und nickte Konstanze zu. »Los, junge Dame!«

      Das ohrenbetäubende Geräusch knatternder Waffen vermischte sich mit den Schreien der Mimose, als das Fleisch der Ranken in Fetzen gerissen wurde. Konstanze rannte nach rechts, während die Frau die linke Seite übernahm. Gemeinsam umrundeten sie das Pflanzenwesen und beschossen es aus allen Winkeln. Die Elster segelte über sie hinweg und wich geschickt zwei Querschlägern aus.

      Helene konzentrierte sich auf die Fangarme, an denen die Männer hingen, und schoss.

      BLAMM!

      Die Mimose erzitterte. Ihr Kreischen und Wehklagen wurde stetig lauter.

      Moritz’ Kopf dröhnte. Sein Körper war mit Rissen und Krat­zern übersät und sein Gesicht brannte wie Feuer. In den vergan­genen zwei Jahren waren ihm unterschiedlichste Kreaturen be­­­gegnet, aber diese hier schien entfesselter zu sein, als alle, die er bisher erlebt hatte.

      Auf Moritz’ Rücken pleurrte Brummi in seinem Käfig. Der al­­ters­­graue Boogelbie hielt sich tapfer. Wo dieses besonnene Exem­­­­­­plar sonst nur brummte und grummelte – weshalb ihm Konstanze diesen Namen gegeben hatte –, machte es heute Nacht seinen Artgenossen alle Ehre.

      Mehrere Rankenarme knallten immer wieder gegen den Käfig und versetzten ihm heftige Schläge. Doch Moritz ließ sich nicht beirren.

      Am zweiten Tag, als Moritz von seinem Freund und Meister Edgar van Lichtholm in die Wissenschaft der Monsterkunde eingeführt worden war, hatte er gelernt, dass der Kopf einer Mimose einen wunden Punkt besaß: das Horn. Es saß mitten auf der Stirn, direkt über den Augen und dem Schnabel, und war das Kraftzentrum der Bestie.

      Wenn er es abschlagen konnte, wäre der Kampf beendet und die Männer gerettet.

      Moritz kämpfte sich voran, hackte und stach mit dem Schwert und versuchte zum Haupt des Untiers vorzudringen. Es lag verborgen unter Tentakeln, Dornen und wuselndem Gewirr.

      Er bemerkte nicht, wie die Kreatur begann, ihre inneren Arme einzudrehen und einen Kokon um ihn und ihren Kopf zu bilden. Dornige Schlingen flochten ein zwiebelartiges Gefängnis. Eng und tödlich.

      BLAMM!

      Die Mimose zuckte. Helene beobachtete, wie sich die Struktur der Fangarme veränderte. Von einer zur anderen Sekunde ließ das Monstrum die gefangenen Männer los und sammelte sämtliche Ranken aus dem Wirtshaus über dem Loch. Während die Losgelassenen kopfüber auf dem harten Trümmerboden landeten, pressten sich die Pflanzenarme aneinander und schufen einen Käfig, der sich wie ein Dutt zusammendrehte. Moritz verschwand darin.

      Konstanze und die Frau namens Rita stellten das Feuer ein und rannten zu den bewusstlosen Männern. Helene jedoch blieb ruhig stehen. Sie hatte begriffen, was vor sich ging. Die Kreatur hatte ihre Beute freigegeben, weil sie ein neues Ziel hatte – Moritz. Sie wollte ihn ersticken.

      Moritz klammerte sich an den Ranken fest, die ihn umgaben, schob sich kopfüber nach unten und spürte, wie die Dornen seine Hände durchstachen. Er wusste, dass sie nicht giftig waren, aber sie verursachten brennende Schmerzen. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Kopf des Monsters.

      Auf seinem Rücken wurde es plötzlich still. Brummi hatte aufgehört aus vollem Halse zu pleurren. Vermutlich hatte ihn die Anstrengung so erschöpft, dass er in Ohnmacht gefallen war. Moritz musste sich beeilen. Tentakel schlugen ihm im immer finsterer werdenden Licht entgegen und leckten ihm über das Gesicht. Ein Schwall ekligen Gestanks traf ihn, faulig und gärend wie ein Kadaver. Das Maul!

      Moritz zog sich voran, spürte, wie die spitzen Ranken in sein Gesicht schnitten. Er versuchte, seine Klinge nachzuziehen, doch die Dornen hielten sie fest. Wild zerrte und riss er daran und sorgte dafür, dass sich immer neue Stacheln in seine Hände gruben. Mit einem Ruck befreite er sein Schwert – die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Weiter! Das Biest aufhalten!

      Moritz schlug nach vorne, hoffte, den Kopf blind zu treffen, doch er verfehlte sein Ziel. Schmale Ranken zischten ihm entgegen und ohrfeigten ihn. Er kniff die Augen zusammen und spürte im selben Moment, wie spitze Dornen seine Lider trafen. Moritz schrie auf. Der beißende Schmerz ließ die Tränen unkontrolliert hervorquellen – oder war es Blut? Sein Blick war verschwommen, doch das machte keinen Un­terschied. Je tiefer er gelangte, desto dunkler wurde es. Der Kokon aus Armen, der ihn gefangen hielt, schirmte das Licht vom Wirtshaus ab und schickte ihn hinab ins pechschwarze Nichts.

      Helene hörte einen Schrei und sah Konstanze an. »Dein Bru­der«, war alles, was sie sagte.

      Konstanze, die Rita dabei half, die Männer zur Eingangstür der Schwarzen Katze zu schleifen, erstarrte mitten in der Bewe­gung. Zusammen traten sie näher an die eingedrehte Mimose heran, die sich mehr und mehr einwickelte. Die Knolle erinnerte an einen Kochtopf, der kurz davor stand zu explodieren.

      Helene kniete nieder und legte ihre gläserne Armbrust ab. Auf allen vieren kroch sie voran und näherte sich dem Loch, das die Kreatur in den Holzboden des Wirtshauses gerissen hatte. Die Öffnung in den Dielen war so riesig, dass Helene an dem Wesen vorbei


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