Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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der Kopf ist nicht das Problem«, sagte der Arzt. »Aber dein Körper ist übersät mit Stichen. Sogar deine Lider sind durchstochen. Es ist besser, wenn du die Kompressen mit der Tinktur vorerst darauf lässt. Versuch dich so wenig wie möglich zu bewegen.«

      Moritz wollte nicken, stoppte und antwortete nur mit »Ja«.

      Der junge Doktor lächelte. Sein Gesicht strahlte Ruhe aus. Moritz sah unzählige Sommersprossen und Haare, die so blond und hell waren, dass sie fast weiß wirkten.

      »Woran erinnerst du dich?«, fragte der Arzt.

      »Wir haben gegen eine Mimose gekämpft«, sagte Moritz. »Wir wollten die gefangenen Männer befreien. Ich habe den Kopf des Monsters attackiert, um ihm das Horn von der Stirn zu schlagen.«

      Hinter der Schulter des Arztes erkannte er die vier Männer. Sie hatten den dornigen Würgegriff der Mimose scheinbar gut überstanden, wenn auch der Vierte bei genauerem Hinsehen an eine wandelnde Leiche erinnerte – der triefäugige Herr mit dem Käseatem. Neben ihm entdeckte er Helene, Konstanze und die Elster. Die drei waren wohlauf.

      »Du hattest unglaubliches Glück«, sagte Helene. »Leider hatte Brummi das nicht …«

      Sie kam näher und hob vorsichtig Moritz’ Käfig an. Der graue Boogelbie lag reglos am Boden. Sein gesamter Körper war zerstochen und zerquetscht. Sein Kopf war auf den Rücken gedreht.

      »So hättest auch du enden können«, sagte Helene, woraufhin die Elster zustimmend krächzte.

      »Aber ich dachte, dass niemand verletzt wurde …« Moritz schluckte. Brummi war einer ihrer letzten beiden Boogelbies gewesen. Die anderen hatten in den vergangenen Monaten allmählich den Verstand verloren und Moritz kannte den Grund dafür. Nun blieb ihnen nur noch der kleine Fips.

      »Verzeih«, sagte Dr. Julius Mehltau, »ich nahm an, du hättest dich nur nach Menschen erkundigt.« Er erhob sich und machte Platz für Helene und Konstanze. Die Mädchen ließen sich neben Moritz nieder und auch die Elster flog hinzu.

      »Wir dachten, du wärst tot«, sagte Konstanze leise. »Deshalb hat Frau Rita schnell den Herrn Doktor gerufen.«

      Die große Frau im Hintergrund nickte knapp.

      »Das sind nur ein paar Kratzer«, scherzte Moritz und besah sich Helenes geschundenes Gesicht und ihr zerrissenes Kleid. »Ist bei dir alles in Ordnung?«

      Sie sah ihn aus großen violetten Augen an. »Es geht mir immer gleich«, antwortete sie tonlos.

      Moritz hob einen Arm, um sie zu berühren, doch ein sengender Schmerz machte seinen Versuch zunichte.

      »Sachte, mein Junge. Es wird noch eine Weile dauern, bis du wieder gesund bist«, bremste Dr. Mehltau ihn. »Ich bereite alles für einen Aderlass vor, danach fühlst du dich besser.«

      Moritz riss die Augen auf. »Das ist nicht nötig!« Allein der Gedanke, dass irgendjemand ihm den Arm aufschnitt, um Un­­mengen Blut abfließen zu lassen, weckte schlimme Erinne­run­­­gen. »Welche Stadt ist das hier?«

      »Bad Greifenstein«, antwortete die Frau namens Rita. »Der ehemalige Wallfahrtsort.«

      Bei der Erwähnung des Ortsnamens begann Moritz’ Herz zu rasen. »Wirklich?« Er atmete durch den Schmerz. »Aber wieso ehemalig?«

      Dr. Mehltau legte die Fingerspitzen aneinander. »Nun, es kommen kaum noch Menschen nach Greifenstein, um zu gesunden, denn wir teilen uns diesen Ort mit, äh, diversen anderen Gästen.«

      »Ich wette, Sie meinen damit weder Russen noch Franzosen«, entfuhr es Moritz.

      Dr. Mehltaus Lachen klang freudlos. »Nicht, wenn Russen und Franzosen jetzt wie Mimosen, Nachtgiger oder Rasselböcke aussehen.«

      »Dann sind wir hier richtig«, sagte Helene und sah in die Runde.

      Eine Pause entstand, bis Moritz schließlich das Wort ergriff: »Wir sind auf der Suche nach einem Wesen mit besonderen Fähigkeiten. Laut Alphons Deysingers Atlas fantastique gehört Bad Greifenstein zu den am meisten heimgesuchten Orten. Deshalb wollten wir hierher.«

      »Waf füh eiin Wefen?«, fragte der Mann mit den Triefaugen.

      Moritz starrte ihn irritiert an.

      »Was für ein Wesen?«, übersetzte Rita.

      Da war sie, die große Frage. Moritz sog tief die Luft ein, was höllische Schmerzen verursachte. Er versuchte, sich zu entspannen. »Wir suchen nach einem Wesen, das Mock genannt wird. Es verfügt angeblich über die Gabe, Krankheiten zu heilen. Wir brauchen es, weil …«, sein Blick glitt zu Helene, »… wir hoffen, dass es einen Fluch brechen kann.«

      Keiner der Anwesenden lachte. Niemand rümpfte die Nase oder griff zu einer Mistgabel, um Moritz und seine Freunde aus der Stadt zu jagen. Das lief besser als gewohnt.

      »Was ist passiert?«, fragte Rita nur.

      Helene erhob sich. »Ich wurde gebissen. Von einem Nachtalb.« Sie schien zu jedem der Anwesenden einzeln zu sprechen. »Seitdem bin ich untot.« Niemand unterbrach sie. »Es heißt, der Atem des Mock hätte heilende Kräfte. Vielleicht kann er mir helfen.«

      Wieder entstand eine Pause, in der niemand nach einem Irren­­arzt schickte. Die Menschen von Bad Greifenstein schienen das Ungewöhnliche längst in ihr Leben gelassen zu haben. Es aß mit ihnen zu Abend.

      »Und wie sieht dieser Mock aus?« Ohne es zu wissen, hatte Dr. Julius Mehltau die zweite große Frage gestellt.

      »Es gibt verschiedene Beschreibungen«, sagte Helene. »In Bellhopps Dämonenlexikon Band IX und Herrmann Liebkinds Werk Die sieben Sünden des Hubertus Langsam steht geschrieben, dass der Mock so groß sei wie ein Bär und sechs Beine hätte, mit denen er nur rückwärts laufen könne. Bei Prinzlein und Eggerts Schwarze Verheißungen und Verwünschungen ähnelt er einem Habicht mit Menschenkopf und Schlangenschwanz. Und in Dillbert Gelbfußʼ Enzyklopädie der geringen Wunder heißt es, der Mock hätte zwei Beine, die sich auf seinem Kopf befänden, und er könne sich nur kriechend bei Vollmond fortbewegen. Mit anderen Worten …«

      »Wir wissen es nicht«, sagte Moritz bitter.

      Helene schlug die Augen nieder.

      Während sich das Schweigen wie ein Tintenfleck in dem verwüsteten Gasthaus ausbreitete, spürte Moritz eine Bewegung unter den Kompressen. Ein Krabbeln. Er wandte den Kopf, soweit es die Schmerzen zuließen, und sah aus dem Augenwinkel, wie ein wurmähnliches Etwas unter den Verbänden seinen Ellen­bogen hochkletterte. Als es die Schulter erreicht hatte, lugte es unter den Tüchern hervor. Der Schattengeck war zurück.

      Die Elster keckerte leise und Konstanze zupfte das Geschöpf vorsichtig von seiner Schulter. Es rollte sich zusammen und bildete auf ihrer Handfläche eine schützende Kugel aus weichem dunkelrotem Flaum.

      »Ich sperre ihn besser in ein Glas«, murmelte Konstanze.

      Moritz nickte und begriff, dass alle Anwesenden die seltsame Szene mitverfolgt hatten.

      Rita stemmte die Hände in die Hüften und Dr. Mehltau polierte verwundert seinen Zwicker. Die vier Männer blickten sich gegenseitig an.

      »Hast du schon mal von einem Mock gehört, Tonke?«

      »Nein, Kante, noch nie. Stiller?«

      Kopfschütteln.

      »Jauche?«

      »Gnumpf … hbn …«

      Schweigen.

      »Wer will ein Bier?«

      Rita reckte das Kinn. »So weit kommt das noch! Macht dass ihr rauskommt! Und ich erwarte euch morgen früh für die Auf­räumarbeiten. Pünktlich um acht!«

      »Aber Rita …«, versuchte es der Mann namens Tonke.

      Der strenge Blick der Wirtin ließ ihn sofort verstummen.

      »Wir nehmen besser die Hintertür«, murmelte der Herr na­­mens Kante. Es schien ihm sicherer


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