Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel
musste schon ein Herz aus Stein haben, um ihrem Engelsgesicht einen Wunsch abzuschlagen. Dass dieser Engel gerne mit Feuerwaffen spielte und einen Zitterwarg mit bloßen Händen fangen konnte, sah man ihm nicht an.
Auf der Straße ertönten Stimmen. Er sah über die Schulter und erkannte Helene, Konstanze und Dr. Mehltau. Während sich seine Schwester und der Doktor ebenfalls Tücher auf Mund und Nase pressten, ging Helene ungeschützt neben ihnen her. Sie nahm den Gestank nicht wahr.
Immerzu hatte Moritz über ihr Schicksal nachgegrübelt. Immer wieder hatte er sich darüber gewundert, dass sie weder Schmerzen noch tiefere Gefühlsregungen empfinden konnte. Sie war abgeschnitten von der Welt, was jedoch nicht bedeutete, dass sie nicht daran teilnahm. Sie war es gewesen, die Schleier und Tücher über einige der Käfige im Wagen gehängt hatte, in der Hoffnung, die Wesen würden dadurch zur Ruhe kommen. Dem war nicht so. Die eine Fraktion wurde in der Dunkelheit nur lauter und aktiver, die andere fraß die Tücher und würgte anschließend die Goldfäden hoch. Offenbar war Gold etwas, das nicht zu einer ausgewogenen Monster-Ernährung gehörte.
Die Verdauung der Wesen entwickelte sich ohnehin zu einem Problem. Wieder war es Helene, die überall im Wagen Schälchen platziert hatte. Zu ihrem Glück ließen die Wesen selten etwas fallen. Stattdessen pupsten sie. Ununterbrochen. In den ersten Wochen hatte Moritz festgestellt, dass es nicht mehr ausreichte, Räucherstäbchen oder Duftöle zu verwenden. Wie gerne hätte er die Bullaugenfenster und Luken, die überall in die Außenhülle des Dampfwagens eingelassen waren, geöffnet, um den Gestank abziehen zu lassen, doch die Gefahr, dass sich neue Monster Zutritt verschafften, war zu groß. Es herrschte eine Atmosphäre, in der Kopfschmerzen wie Unkraut gediehen.
Kraftlos ließ sich Moritz auf ein Kissen fallen – direkt zwischen einem Bücherstapel und einem Weidenkorb, der vor Schriftrollen und Waffenzubehör überquoll. Sein ganzer Körper protestierte und er tastete seinen Hals ab. Der Verband, den der Doktor ihm angelegt hatte, war viel zu eng geschnürt und mutete wie eine altertümliche Halskrause an. Wenigstens stank das Mittel nicht, mit dem der Stoff durchtränkt war.
Moritz rutschte auf den Kissen herum, um eine bequemere Haltung zu finden. Doch etwas stach ihn in die Leistengegend. Mühsam durchforstete er seine Hosentasche und fand ein in ein Tuch eingewickeltes schwarzes Stück Glas. Der Splitter der Glasmaske. Den Teil, den Helene vom Schiff der Komtesse mitgenommen hatte. Er trug ihn stets bei sich, um sich an den Ort zu erinnern, an dem so viel Schmerz und Dunkelheit geherrscht hatte. Und an Edgar, der dort sein Leben verloren hatte. Es gab keinen Trost.
Er nahm eine Bewegung auf seiner Schulter wahr. »Verschwinde!«, schnaufte er, als er einen neuerlichen Schattengecken entdeckte. Oder war es derselbe, den Konstanze zuvor in ein Glas sperren wollte?
Moritz zupfte den Gecken von seiner schmerzenden Schulter und ließ ihn in eine Zinkwanne mit Feuerspeiern fallen. Der Geck wurde sofort von den schreckhaften Speiern begutachtet und zu ihrem neuen Herrscher ernannt. Manchmal reichte ein Auge mehr, um als überlegene Spezies zu gelten.
Moritz wandte sich wieder dem schwarzen Splitter zu. Er schimmerte matt auf seiner bandagierten Handfläche. Welches Geheimnis verbarg das dunkle Glas? Wieso hatte es Mädchen in sich aufgenommen? Warum hatte es ihnen ihre Gesichter gestohlen? Was wollte es?
Das Fragment der Maske hüllte sich in Schweigen.
Moritz fuhr sanft mit den Fingern über das edle Schwarz. Samtig und glatt fühlte es sich an. Doch etwas war seltsam. War der Splitter größer geworden in den letzten Monaten? War er schon immer so spitz gewesen? So scharf? Moritz schüttelte den Kopf. Das bildete er sich vermutlich nur ein. Daran war sicher der Wagen schuld. All die Monster machten ihn verrückt.
Er wickelte den Splitter wieder ein und steckte ihn zurück in die Hosentasche, als Helene mit der Elster auf dem Arm den Wagen betrat und die Tür hinter sich schloss. Selbst der Vogel trug einen Mundschutz – den Fetzen eines Taschentuches.
»Ist der Doktor weg?«, erkundigte sich Moritz.
»Nein«, antwortete Helene. »Er hofft, dass du dir die Sache mit dem Aderlass noch mal überlegst.«
»Auf keinen Fall.« Moritz zog sich auf die Beine. Sie zitterten wie Zweige im Wind. Er versuchte tief ein- und auszuatmen, trotz des Gestanks.
»Du willst wirklich auf die Burg?«, fragte Helene.
»Hast du eine bessere Idee?«
Sie blieb ihm eine Antwort schuldig.
»Dann ist es beschlossene Sache.« Moritz umrundete Käfige, die in anderen Käfigen standen. Not machte erfinderisch und gewisse Geschöpfe hatten nichts gegen Gesellschaft.
»Und was ist mit unserem Problem?«
»Was soll damit sein?«, fragte Moritz und griff nach den Gitterstäben eines Käfigs, in dem sich ein halbes Dutzend Sperlingsmäuler zu einem vieläugigen Klumpen zusammengeschlossen hatten. Eine Verteidigungstaktik.
Helene sah ihn direkt an. »Da oben erwarten uns noch mehr davon.« Sie nahm sich Zeit, um auf alle Käfige im Wagen zu deuten. Es dauerte entschieden zu lange. »Was, wenn das Problem schlimmer wird?«, fragte sie.
Moritz nickte. Ihm war bereits aufgefallen, dass die Monster, die in den letzten Monaten hinzugekommen waren, sich von den ersten unterschieden. Sie wurden angriffslustiger, unberechenbarer und vor allem größer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein gefährliches Riesenbiest an ihre Tür klopfte. »Denkst du, dass die Mimose der Anfang war?«
Helene legte den Kopf schief – so schief, dass Moritz bereits vom Hinsehen schwindelig wurde.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und streichelte die Elster versonnen. »Irgendetwas ist hier in Aufruhr. Und ich fürchte, es ist keine Horde Feuerspeier.«
Sie hatte den Satz kaum beendet, als Fips die Ohren aufstellte und lauthals losschränzte. Etwas krachte auf das Dach des Dampfwagens. Vor Schreck verlor die Elster den Mundschutz.
Die Tür des Wagens schwang auf und Konstanze flog in Moritz’ Arme. Sie zitterte am ganzen Leib. Auf dem Pflaster stand Dr. Julius Mehltau und starrte hinauf zum Dach des Dampfwagens. Seine Körperhaltung ließ erkennen, dass er das Mädchen in den Wagen gestoßen hatte, um es vor irgendetwas zu schützen.
Ein Geräusch hallte vom Dach. Krallen schabten über Metall. Dann schoben sich bleiche Klauenhände um die Oberkante des Türrahmens. Ein gewaltiges Biest sprang herunter. Sein Fell schimmerte weiß wie Schnee, sein Körper füllte die schmale Tür mühelos aus. Es war fast zwei Meter groß. Eisblaue Augen funkelten wie Diamanten und eine lange, spitze Schnauze stieß ein raues Heulen aus.
»Ein Werwolf!«, brüllte Moritz. Er stolperte rückwärts und zog Konstanze mit sich. Er fiel über Käfige, Bücherstapel und Körbe, während das weißhaarige Biest seine breiten Schultern durch die Tür zwängte. Der Werwolf fletschte die Zähne und setzte zum Sprung an, als ihn etwas am Hinterkopf traf: ein Herrenschuh mit verschnörkelter Schnalle.
Die Bestie wandte langsam den Kopf. Ihr Blick ruhte auf Dr. Mehltau. Der junge Arzt wollte soeben den zweiten Schuh zur Hand nehmen, um ihn in ein Wurfgeschoss zu verwandeln, erkannte aber scheinbar, wie albern die Idee war, denn er ließ den Schuh fallen und rannte davon.
Moritz zerrte Konstanze, Helene und die Elster tiefer in den Wagen hinein – die Bestie stürzte hinterher. Sie drängten sich in der letzten Ecke des Dampfwagens an die Wand, der Werwolf vor ihnen füllte den Raum bis unter die gebogene Decke aus.
Moritz fischte einen Teleskopstock aus einem Werkzeugkorb und betätigte einen der Knöpfe. KLICK! Der Stab verlängerte sich und traf die Bestie auf die Brust. Das Ungeheuer rang nach Luft. Für Moritz Zeit genug, um sich zu orientieren. Da, der Vorhang zu Edgars früherem Arbeitszimmer! Der Schrecken ließ ihn jegliche Schmerzen vergessen und er hetzte los – der Werwolf japsend hinterher. Im Laufen löste Moritz den dritten Knopf aus und verwandelte den Stock in eine Klinge. Mit einem Hieb durchtrennte er die Vorhangschnur, die den Durchgang markierte. Der