Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel
ungebremst in den Schutthaufen. Die Hinterbeine des Untiers strampelten und seine Krallen schabten übers Pflaster. Der Werwolf sprang an Kisten und Fässern hoch und versuchte die Mädchen zu schnappen, als sich unvermittelt eine Kette um seinen Hals legte.
Dr. Mehltau stieß einen hellen Triumphschrei aus – und zuckte zurück. Der Werwolf riss an der Kette, verlor den Halt und krachte vom Schutthaufen auf die Straße vor die Füße des Arztes. Der schrie auf und rannte in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter – vorbei am Wagen und an Moritz. Die Bestie wetzte mit klirrender Kette hinterher.
Moritz sah den beiden kurz nach, aber dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Die Kette, die immer noch um den Hals des Werwolfes hing, spannte sich mit einem metallischen Ruck und der Wagen geriet ins Rollen.
Moritz versuchte fortzukriechen, doch es gelang ihm nicht. Seine Arme protestierten und die Beine waren wie gelähmt. Mühsam blickte er über die Schulter und sah, dass seine Füße genau in der Fahrrinne lagen. Sie würden überrollt und zerquetscht werden.
Der Wagen knirschte auf dem Pflaster. Die Räder holperten erst über einen Stein, dann noch einen und noch einen. Sie kamen auf Moritz zu. Ein Stück weiter die Straße hinunter zog der Werwolf wie von Sinnen an der Kette und brachte das Fahrzeug in Schwung.
Moritz krallte sich in den Lücken der Steine fest und versuchte sich fortzuziehen. Fort von den Rädern, fort von dem malmenden Geräusch, das sie erzeugten. Doch er hatte keine Kraft mehr. Jede Bewegung schmerzte und raubte ihm fast die Sinne. Weg hier, schnell!, brüllte die Stimme in seinem Kopf, doch sein Körper war taub.
Hilflos sah er die Räder auf sich zukommen, als er gepackt und fortgezerrt wurde. Ein Schmerz raste durch seinen Körper und ließ ihn aufschreien. Tränen schossen ihm in die Augen. Das Fahrzeug glitt außer Reichweite, bis es keine Gefahr mehr darstellte. Das kolossale Vehikel aus Holz, Metall und Glas rollte die leicht abschüssige Straße hinunter, begleitet von brachialem Scheppern.
Moritz’ Körper kam zum Liegen. Da waren große Hände, ein gerötetes Gesicht und dunkle Haare. Rita. Sie hatte ihn behutsam auf den Stufen der Schwarzen Katze abgelegt.
»Beweg dich nicht«, sagte sie.
Ein guter Witz – der beste heute Nacht. Doch Moritz’ Galgenhumor erstarb, als er Ritas Augen sah. Sie verrieten ihm, dass er übel zugerichtet war. Ihre Hände glänzten von seinem Blut.
»Der Wagen«, keuchte er.
Rita schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht wichtig.«
Moritz versuchte, sich zu erheben. »Unsere Aufzeichnungen …«
Schritte näherten sich. Helene und Konstanze kamen herbei. Und die Elster. Sie krächzte aufgeregt.
Moritz hörte gar nicht, was sie sagten. Er starrte die ganze Zeit nur Rita an und Rita starrte zurück. »Der Wagen«, flehte er. »Bitte!«
Ritas Ausdruck war so voller Mitleid, dass er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, biss sich auf die Unterlippe und rannte dem Wagen hinterher.
Moritz wollte erleichtert seufzen, doch er hielt sofort inne, denn es bereitete ihm Höllenqualen. Konstanze streichelte ihn mit tränenüberströmtem Gesichtchen. Jede ihrer Berührungen ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Er konnte Helenes zerfetzten Ärmel sehen und die Wunde, die der Werwolf in ihren Arm geschlagen hatte, doch sie blutete nicht.
Moritz drehte den Kopf, so weit er konnte. Am unteren Ende der Straße flammte ein gelber Blitz auf. Eine Stichflamme schoss in den Nachthimmel hinauf. Der Dampfwagen! Er lag umgekippt und verkeilt zwischen den Häusern. Aus seinem schweren Metallbauch loderte eine Feuersäule empor. Moritz spürte die Hitzewelle selbst hier an den Stufen des Wirtshauses.
»Nein«, murmelte er schwach. Die vielen Monster, die Boogelbies, der kleine Fips, die Aufzeichnungen und Erinnerungen an Edgar … alles brannte.
Rufe vermischten sich mit dem Heulen des Werwolfes, das irgendwann abriss. Moritz glaubte, unheimliche Geschöpfe zu erkennen, die sich aus dem brennenden Wrack befreiten und seelenruhig über das Pflaster spazierten. Sie vermischten sich mit fremden, menschlichen Schemen, die aus ihren Häusern gestürmt kamen und nach Löschwasser riefen.
Doch in all dem Chaos achtete Moritz nur auf Ritas gewaltige Silhouette: Sie stand wie angewurzelt da und starrte in die Feuersbrunst. Sie kam zu spät.
Feurige Bilder tanzten vor Moritz’ Augen. Riesige, brennende Mäuler verfolgten Helene, Konstanze, die Elster, Rita und Dr. Mehltau eine gewundene Straße hinunter. Der Mann namens Jauche und etliche Monster rannten zwischen ihnen. Auch Fips war darunter. Dann landeten sie in einer Sackgasse – sie saßen in der Falle. Die lodernden Kiefer stießen auf sie hinab. Glühende Reißzähne schnappten sich einen nach dem anderen und zermalmten sie zu Asche, während ein Nachtalb gehässig lachte …
Irgendwann schlug Moritz die Augen wieder auf. Er lag in einem Zimmer und starrte gegen eine hölzerne Decke. Die niedrigen Schrägen ließen eine Dachkammer erahnen. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah ein weiteres Bett mit einer Wolldecke, keine zwei Meter zu seiner Rechten. Es war leer.
Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. An einer Wand stand ein dreibeiniger Stuhl, auf den jemand Kleidung gelegt hatte: Moritz’ Weste aus La-Ka-Fell, den Teleskopstab, die schwarze Jacke, die ihm langsam zu klein wurde, seine Schuhe und die Hose. Beim Anblick seiner Sachen beschlich Moritz ein komisches Gefühl.
Misstrauisch befühlte er seinen Körper und ertastete Verbände überall. Die Brust war stramm eingeschnürt, auch sein Hals, die Arme, Hände und Füße waren von dicken Wickeln umschlungen. Erleichtert stellte er fest, dass er darunter noch Unterwäsche trug.
Er hob ein Bein, ganz langsam, und versuchte, sich aus dem Bett zu schieben. Es war sehr mühsam, doch das schien eher an den straffen Verbänden zu liegen als an seinen schmerzenden Gliedern. Er stemmte sich nach vorn, um nicht wie ein Käfer hintenüber zu fallen. Dann saß er aufrecht und ließ die Beine an der Seite herunterbaumeln. Sofort überkam ihn ein starkes Schwindelgefühl. Der Raum tanzte vor seinen Augen.
Moritz schlotterte und versuchte, die Schmerzen in seiner Brust zu ignorieren. Es dauerte ein paar Minuten, bis der harte Dielenboden nicht mehr wie bei einem Ritt auf einem Schaukelpferd auf und ab wankte.
Vor ihm, besser gesagt vor seinen bandagierten Füßen, saßen zwei kleine Wesen und starrten ihn an.
Das eine war ein schwarzgesichtiger Krummschweif, von der Größe eines Wiesels. Er hatte riesige, buntgescheckte Augen, die an einen Regenbogen erinnerten. Jetzt waren sie vor Schreck geweitet. Sein langer, gefalteter Schwanz schlug ein imposantes Rad und mit einem Satz verschwand er auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Bett. Nur seine Augen lugten noch darunter hervor.
Das andere Wesen war Moritz gänzlich unbekannt. Das auffälligste Merkmal waren seine milchig weißen Knopfaugen. Die Augen eines Blinden. Moritz vermutete schon, dass das Geschöpf nichts erkennen konnte, doch er irrte sich. Die stachelige Kreatur, die nicht größer war als eine fette Ratte, verfolgte seine Bewegungen mit wachem Interesse. Die blind anmutenden Augen erfassten jede Regung ihres Gegenübers und beobachteten sie stumm.
Moritz betrachtete seine Hände. Dort, wo die Bandagen endeten, kamen überall Schnitte und Schürfwunden zum Vorschein. Die Fingerknöchel waren verschorft, die Fingernägel vom Blut rotbraun verfärbt. Doch die Schmerzen waren verschwunden. Er roch an den Verbänden. Keine scharfen Salben oder Tinkturen. Womit auch immer der Stoff getränkt war, es wirkte.
Moritz wandte den Kopf dem Licht zu. Zu seiner Rechten am Kopfende seines Bettes befand sich ein niedriges viereckiges Fenster unter dem Giebel. Dahinter sah er Bad Greifenstein aus einem ganz neuen Blickwinkel.
Symmetrisch angeordnete Gebäude wurden von Rund- und Vierecktürmen mit roten Dächern in unterschiedlicher Höhe unterbrochen.