Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel
»Wir brauchen Silber! Schnell!«
Helene ergriff eine der dicken Stricke, die wie Schlangen über den Boden tanzten. Die Elster krallte sich eine weitere im Flug und ließ sie in ihre Hände fallen. Helene packte die Enden und zog. Mit einem Ruck raffte sich der Stoff und der Oberkörper des Wolfes steckte wie in einem Sack fest. Er knurrte und wehrte sich unbändig. Dabei schnürte er sich immer weiter ein. Eine Klaue bohrte sich durch den Stoff und zerfetzte ihn mit einem scharfen Geräusch. Helene wich zurück.
Unterdessen kauerte Konstanze unter einer Werkbank und wühlte in Körben und Kisten. »Verdammt, wo steckt das Ding bloß?« Sie fand einen tiefen Kasten und verschwand darin.
Moritz hingegen leerte die Schubladen an Edgars altem Arbeitsplatz. Wo war der Silberbolzen? Schon tausend Mal hatte er die uralte Pistole in den Händen gehabt – groß, sichelförmig, aus purem Silber. Moritz’ Kopf dröhnte und sein Körper schmerzte. Alles schien sich an der falschen Stelle zu befinden. »Wo nur? WO?!«, fluchte er.
Der Kopf des Werwolfes drückte sich durch den Vorhangstoff. Zuerst die Nase, dann die hochgezogenen Lefzen, schließlich der Rest des Schädels. Der Kopf war frei. Kalte Augen suchten den Wagen ab und entdeckten Helene. Eine Kralle zwängte sich durch das Loch am Maul vorbei und langte nach ihr. Mit den Hinterläufen kratzte das Untier über den Boden. Ein Ruck stoppte den Wahnsinnigen, als der Vorhangstoff zwischen Dielenbrettern und Metallplatten hängen blieb.
Helene wich zurück, bis sie gegen ein Regal stieß. »Beeilt euch!«
»Ich hab’s gleich«, schrien Moritz und Konstanze gleichzeitig von gegenüberliegenden Seiten.
Die Bestie riss am Stoff und seine Krallen erwischten Helenes Unterarm. Schützend zog sie ihn zurück.
Konstanze sprang hinter der Werkbank hervor, als der Werwolf einen weiteren Vorstoß wagte. Er schnappte nach Helene, wieder und wieder. Die Elster flatterte aufgeregt dazwischen, versuchte nach den Augen des Monsters zu hacken, doch sie konnte nichts ausrichten.
Moritz sah, wie Konstanze mit einer Waffe in der Hand auf das Fellbiest zurannte. »Nein, warte, das ist –«
Der Werwolf wandte ihr den Kopf zu.
PAFF!
»Nachtschattenpulver!«, würgte Moritz hervor, als Konstanze den Abzug betätigte. Eine Ladung Dunkelheit explodierte in der Schnauze des Werwolfs. Beißende Schwärze hüllte den Wagen in Sekunden ein. Moritz’ Lungen füllten sich mit Qualm.
»Ich weiß«, hustete Konstanze.
Der Werwolf röchelte stoßweise. Er winselte in der Dunkelheit und schien die Orientierung verloren zu haben, so wie Moritz.
»Konstanze? Helene? Wo seid ihr?«
»Hier!« Wieder ein Husten. »Hier drüben!«
Langsam lichteten sich die blauschwarzen Schwaden. Schemenhaft konnte Moritz die Umrisse von Helene und Konstanze erkennen. Sie kauerten hinter einem umgekippten Regal, während die Elster herumflatterte. Der halb eingewickelte Werwolf befand sich zwischen ihm und den Mädchen. Die Bestie wälzte sich auf dem Boden, zog und zerrte am eingeklemmten Stoff und verknotete sich weiter. Seine Schnauze spie schwarzen Speichel aus.
Moritz musste ohne Silberbolzen zu Helene und Konstanze. Er spannte die brennenden Muskeln an, setzte zurück und stieß sich ab. Mit einem Satz war er in der Luft und sauste über das zuckende Fellbündel hinweg. Auf dem Höhepunkt seines Sprungs bäumte sich der Werwolf auf. Ein Gebiss, das wie eine Bärenfalle aufklappte, schnappte nach Moritz’ Bauch und verfehlte ihn um Haaresbreite.
Moritz krachte gegen das Regal, hinter dem sich die Mädchen verschanzt hatten, überschlug sich und landete auf der anderen Seite der Barrikade. Nach Luft schnappend suchte er das nächstbeste Bullaugenfenster, das groß genug war, um hindurchzukriechen, und ließ seinen Teleskopstab darauf zuschnellen. Es zerbrach mit einem Klirren.
»Raus da, los!«, brüllte er, während der Vorhang hinter ihm vollends riss und der Werwolf frei war.
Das Monstrum sprang, als die Mädchen zu klettern begannen.
Moritz blieb nichts anderes übrig: Er breitete die Arme aus und warf sich dem Ungetüm entgegen. Der Aufprall nahm ihm schier den Atem. Er krallte sich im Pelz der Bestie fest und wurde hin- und hergeworfen. Klauen gruben sich in sein Fleisch und fügten ihm Schmerzen zu, die seinen Körper in Brand steckten. Dann wurde Moritz fortgeschleudert und blieb zwischen Käfigen und Büchern liegen. Der Werwolf drehte sich verwirrt um sich selbst, bis sein Blick auf Moritz fiel – die Zecke in seinem Fell.
Das Untier heulte und röchelte in blanker Raserei. Seine vom Nachtschattenpulver geschwärzte Schnauze senkte sich herab und Moritz roch fischigen, heißen Atem.
Ein heiseres Wimmern entrang sich Moritz’ Kehle. Er fürchtete, die Kreatur würde ihm in nächsten Moment das Gesicht wegreißen – doch sie biss nicht zu. Sie schnüffelte nur, inhalierte, tastete ihn mit ihrem Geruchssinn von oben bis unten ab.
Dann verharrte der Werwolf. Sein Schnüffeln wurde sanfter, fast zärtlich, als fürchtete er, sich die Nase zu versengen. Er witterte etwas, tastete sich mit all seinen Sinnen voran. Was auch immer er wahrnahm, hielt ihn gleichzeitig auf Abstand. Ehe Moritz einen weiteren Gedanken fassen konnte, hob der Werwolf seinen Kopf und richtete sich zu voller Größe auf. Er warf Moritz einen letzten Blick zu, dann zwängte er sich durch die schmale Hintertür und verschwand in der Nacht.
Moritz zitterte. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Arme waren schwer wie Blei. Langsam wandte er den Kopf. Die Schmerzen raubten ihm fast den Verstand.
Der Wagen war nicht wiederzuerkennen. Käfige waren aufgebrochen, Regale umgekippt, Stoff hing in Fetzen von der Decke, Glasscherben lagen überall verstreut.
Quälend langsam drehte er sich auf die Seite und kroch durch den Wagen. Zentimeter für Zentimeter schob er sich voran, durch Scherben, Holzsplitter und Dreck. Seine Finger krallten sich in die Fugen der Dielen und zogen den schmerzenden Körper vorwärts. Er musste zu Konstanze und Helene, musste sie beschützen!
Tränen schossen ihm in die Augen. Die Hintertür kam langsam näher. Die kühle Nachtluft wehte in den zerstörten Wagen und durchbohrte seine Lunge. Sie schien brennende Löcher in seinen Körper zu stanzen.
Mehrere Augenpaare beobachteten ihn. Einige der Kreaturen, die vor ihren zerbeulten Käfigen hockten, sahen interessiert zu, wie er sich bäuchlings vorwärtsbewegte. Langsamer als langsam. Selbst ein Scheußlich-schädlicher Schnickschnack hätte ihn in seiner derzeitigen Verfassung überholt.
Moritz gab nicht auf. Die Hintertür kam in Reichweite. Er streckte seinen rechten Arm aus, umfasste den Rahmen und zog sich nach vorn. Sein Schädel drohte zu zerspringen. Halb hing er aus dem Wagen, dann versuchte er, ein Bein anzuwinkeln. Er fand Halt an einem Regal und schob sich heraus. Wie ein nasses Wäschestück klatschte er auf das Pflaster und blieb auf dem Bauch liegen.
Moritz wandte den Kopf, so gut es ging, und spähte unter dem Wagen mit seinen riesigen Speichenrädern die Straße hinauf. Schatten bewegten sich. Schmutzig weiße Pfoten. Der Werwolf drehte sich um sich selbst. Ein Schnüffeln hob an.
Plötzlich ein Poltern, gefolgt von einem unterdrückten Schrei.
»Konstanze …«
Moritz kniff die Augen zusammen, dann entdeckte er sie im fahlen Mondlicht. Seine Schwester stand keine zwanzig Meter entfernt an einer hohen Mauer, mitten auf einer kleinen Schutthalde. Kisten, Bretter, Fässer und Müll stapelten sich dort. Helene und die Elster waren bei ihr. Sie halfen Konstanze, den unter ihren Füßen nachgebenden Berg zu erklimmen und versuchten sich gemeinsam über die Steinwand zu retten.
Moritz hörte Schritte über das Pflaster patschen. Dr. Mehltau rannte auf den Werwolf zu. Er hatte offensichtlich seinen Mut wiedergefunden und hielt etwas Rasselndes in der Hand: eine Eisenkette. Der Doktor lief am Dampfwagen entlang, stoppte auf halber Strecke und hantierte am Fahrzeug herum. Schließlich hastete