Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2). Heiko Hentschel

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko  Hentschel


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Stein gedeckt. Es herrschte eine Strenge, die jedes Haus und jeden Turm in eine mittelalterliche Festung verwandelte. Bereit sich zu verteidigen, bereit zurückzuschlagen. Eine gemeißelte Stadt, die den nächsten Angriff erwartete.

      Weite bewaldete Gebirgskämme und Täler erhoben sich im Hintergrund. Dann betrachtete Moritz den Berg, der ihm am nächsten war: ein überhängender, bläulich schimmernder Fels, auf dem eine Burg thronte.

      »Wie geht es dir?«

      Moritz fuhr herum und entdeckte ein Gesicht, hell wie frische Milch. Dr. Julius Mehltau. Er stand in der Tür, ein Tablett mit Kompressen, einem Becher und einem Wasserkrug in der Hand. Er wollte eintreten, zögerte jedoch. »Da ist es schon wieder«, mur­­­melte er.

      Moritz folgte seinem Blick und bemerkte, dass der Arzt das unbekannte Stachelwesen auf dem Fußboden fixierte. Das Wesen musterte ihn ebenfalls kurz, dann wandte es sich wieder Moritz zu.

      »Sie kennen sich?«, fragte Moritz und spürte, dass sein Mund träge und trocken war, seine Lippen rissig.

      Der Arzt nickte und kam in sicherem Abstand zu Moritz he­rüber. »Das Fräulein Helene hatte es vor die Tür gesetzt. Zu den anderen. Wie ist es wieder hier reingekommen?«

      Moritz lächelte schief. »Sie finden immer einen Weg.«

      »Warum tut es das?«, fragte Dr. Mehltau und stellte das Ta­­blett auf dem Bett ab.

      »Was?«

      Der Doktor deutete auf das unbewegt starrende Wesen.

      Moritz zuckte die Schultern. »Vielleicht versucht es, uns seinen Willen aufzuzwingen.«

      »Glaubst du, es kann Gedanken lesen?«

      »Wer weiß.«

      Dr. Mehltau schluckte und Moritz konnte sich ein schelmisches, wenn auch schmerzendes Grinsen nicht verkneifen. Wenn man schon mit grässlichen Blessuren im Streckverband lag und von allerhand unheimlichem Getier verfolgt wurde, konnte man wenigstens Spaß dabei haben.

      »Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte er nach einer Weile.

      »Über eine Woche. Heute ist der 10. September.«

      »Was?« Moritz ruckte erschrocken hoch und sofort begann sich das Zimmer wie wild zu drehen. Er schwankte und drohte nach vorne zu kippen. Der Doktor fing ihn auf und half ihm aufs Bett zurück.

      »Sachte, mein Junge! Du brauchst Ruhe, damit deine Ver­let­zun­­gen heilen.«

      Moritz’ Atem flatterte. Die Welt um ihn herum kam nur schleppend zur Ruhe. »Was ist mit mir, Doktor?«

      Dr. Mehltau räusperte sich. »Du hattest schwere Schnitte, Stiche und Quetschungen – zuerst durch den Angriff der Mimo­se. Dann kamen durch den zweiten Angriff des … des …«

      »Werwolfes«, half Moritz nach.

      Auf Dr. Mehltaus Stirn zeigten sich Schweißperlen. »Durch den Werwolf kamen weitere Prellungen am Kopf und Wunden am Oberkörper hinzu. Du hattest mehrere Rippenbrüche. Ich musste einige Knochensplitter mit einer Zange entfernen.«

      Moritz schluckte.

      »Danach habe ich dich zusammengeflickt und mit einem Ver­band umwickelt. Wenn sich die Wundränder verfärben, werde ich einen weiteren Aderlass durchführen, damit deine Säfte im Gleichgewicht bleiben.«

      Moritz überlief ein Schauer bei den Worten des Doktors. Er hatte sich nicht dagegen wehren können.

      »Hast du Schmerzen beim Atmen?«

      Gehorsam füllte Moritz seine Lungen mit Luft und atmete kräftig ein und aus. Plötzlich rasten schwarze und weiße Punkte auf ihn zu und hüllten ihn ein. Alles drehte sich.

      »Sachte!«, sagte Dr. Mehltau erneut und hielt ihn aufrecht. »Ganz langsam. Atme ruhig weiter. Du sollst keine Windmühlen antreiben.« Der Doktor legte behutsam ein Ohr an Moritz’ Brust und Rücken und horchte. »Du hattest großes Glück, mein Junge.«

      Moritz bezweifelte das. Sein Körper fühlte sich fremd und wund an. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge. »Was ist mit dem Wagen?«

      Der Arzt hielt inne. »Äh, es tut mir leid. Ich fürchte, das war meine Schuld.«

      »Was ist passiert?«

      Der Doktor legte die Hände in den Schoß. »Ich weiß nicht, wie viel du mitbekommen hast, aber ich hatte keine Wahl. Dieser, dieser …«

      »Werwolf.«

      »Ja, er … er wollte deine Schwester und das Fräulein Helene anfallen und da hab ich die Kette genommen und sie nach ihm geworfen. Das Eisen hat sich um seinen Hals gelegt und ich dachte, wenn ich ihn an eurem Wagen festmache, dann könnte er nicht weg, verstehst du? Aber er ist mir hinterhergerannt und hat den Wagen einfach mitgeschleift. Es ging alles so schnell … Der Wagen ist die Straße abwärts gerollt und in einer Kurve umgekippt. Dann ist er in Flammen aufgegangen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber das Feuer kam aus dem Wageninneren.« Dr. Mehltau zitterte, er schien die Nacht ein weiteres Mal zu durchleben. Seine Ausführungen deckten sich mit dem Wenigen, an das Moritz sich erinnern konnte.

      »Der Wagen ist ausgebrannt«, sagte der Doktor vorsichtig. »Es ist nichts mehr übrig.«

      Moritz wurde übel.

      »Wir versuchten die Flammen zu löschen, aber es funktionierte nicht! Es war, als ob das Feuer einen eigenen Willen hätte. Als ob es leben würde. Furchtbar!« Der Doktor schlug die Hände vor den Mund.

      Jetzt bemerkte Moritz, dass Dr. Mehltaus Handrücken und Finger unnatürlich rot und haarlos waren. Sie glänzten, wie mit dicker Salbe eingerieben. Verbrennungen.

      Moritz ahnte, was passiert war. »Der Gluhschwanz.«

      Der Doktor sah ihn verwirrt an.

      »Wir hatten eine Kreatur im Ofen, einen Gluhschwanz«, seufzte Moritz. »Das ist ein Wesen, das – ach, ist vollkommen egal – es hat sich im Feuer sicherlich sehr wohl gefühlt und es zusätzlich angefacht.«

      Dr. Mehltau schwieg.

      »Was ist mit dem Werwolf passiert?«

      Der Arzt räusperte sich umständlich. »Er ist bewusstlos.«

      »Wie haben Sie das geschafft?« Moritz klang überrascht.

      »Ich habe ihm ein Gift gegeben, das ihn betäubt. Er ist unten im Keller angekettet. Da kann er nicht raus, sagt Frau Holzer.«

      Moritz schnaufte. Er befand sich also noch in der Schwarzen Katze. »Im Keller? Aber wie konnten Sie ihn überwältigen?«

      Der Doktor lächelte milde. »Das musste ich nicht. Als das Feuer ausgebrochen ist, hat er sich selbst bewusstlos geschlagen.«

      »Und wer ist es?«, fragte Moritz gespannt.

      Dr. Mehltau zuckte die Achseln. »Wir wissen es nicht. Er hat sich nicht zurückverwandelt.«

      »Unmöglich«, platzte es aus Moritz heraus. »Werwölfe ver­wan­deln sich in ihre menschliche Gestalt zurück, wenn der Voll­mond vorüber ist.«

      »Aber wir hatten keinen Vollmond in jener Nacht«, sagte Dr. Mehltau. »Der ist erst heute Nacht.«

      Was der Doktor beschrieb, war ausgeschlossen! Moritz hatte Edgars Aufzeichnungen sorgfältig studiert. Werwölfe, egal welcher Ausprägung sie angehörten, verwandelten sich nur in Voll­mondnächten in ihre wölfische Gestalt. Das war Teil des Fluchs. Alles andere ergab keinen Sinn.

      Von draußen waren Stimmen zu hören. Als die Tür aufsprang, sah Moritz Konstanze, Helene und die Elster. Sofort füllte sich der Raum mit Leben. Rita blieb im Hintergrund.

      »Ich wusste doch, dass ich deine Stimme gehört habe«, rief Konstanze, stürzte zum Bett und umarmte ihren Bruder.

      Moritz stöhnte auf.

      »Sachte, junge Dame«, mahnte der Doktor und erhob sich. »Dein


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