Der Virus-Code. J. Zgb.

Der Virus-Code - J. Zgb.


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sofort das Fenster zu!“, schreit Anna ganz hysterisch, sie stürzt ins Zimmer, schiebt Benni und Mo auf die Seite und schließt das Fenster mit einem lauten Knall. „Der ganze Boden ist voll Wasser!“, faucht sie. „Schau, wie du aussiehst! Patschenasse Haare, dein T-Shirt, deine Hose, alles ist nass! Ach, es ist schlimm mit dir!“ Sie fuchtelt mit den Armen und läuft hinaus, um die Mutter zu holen.

      Was ist denn daran so schlimm?, denkt Benni. Die Bäume, die Blätter, die Erde sind doch auch nass! Er bleibt am geschlossenen Fenster stehen und lauscht einfach dem Gesang des Sturmes.

      „Sylphen, schiebt Wolken, schiebt Wolken! Sylphen, Schiebt! Stoßt! Schiebt! Luft bewegen, Luft bewegen! Gasanos, reinigt! Gasanos bewegt! Reinigt! Bewegt! Huihoho, Huihoho! Blast alles frei, blast alles frei! Alles! Huihoho, Huihoho! Lasst die Welt atmen, lasst die Welt wieder frei atmen!“ Benni nimmt den kleinen Stecken seiner Trommel und schlägt zum Takt des Sturmes auf den Holzstuhl.

      Die Mutter steht im Türrahmen und schaut auf Benni. „Was hast du denn da nur wieder angestellt?“, fragt sie und ihr Gesicht sieht etwas müde aus.

      Benni senkt den Kopf und Tränen fließen die Wangen hinunter, dann stampft er mit den Füßen auf und zeigt auf das Fenster. „Huihoho, Huihoho! Der Wind spricht zu uns“, sagt er, „hörst du das denn nicht?“

      Die Mutter schüttelt den Kopf und beginnt das Wasser aufzuwischen. Benni schaut ihr zu, aber seine Gedanken sind bei den Wolken, beim Wind und den Stimmen der Natur. Warum versteht ihn denn keiner?

      Mo, der auf dem Teppich vor dem Bett liegt, beobachtet Benni aus halbgeschlossenen Augen. Nur das zeitweilige Spiel seiner Ohren und das sanfte Auf und Ab seiner Rute lassen erkennen, dass er nicht schläft. Plötzlich springt er auf, stupst Benni mit seiner Nase an und bellt dreimal kurz und sonderbar heiser. Benni legt sein Ohr an den grauen mächtigen Kopf seines Freundes und lauscht. Dann nickt er, greift seine Jacke, rennt – gefolgt von Mo – die Treppe hinunter und durch die Haustür nach draußen. Krachend fällt die Tür hinter ihm zu.

      „Benni! Benni! Komm sofort zurück! Komm sof…!“ Die verzweifelten Rufe seiner Mutter verhallen und Benni lässt sich vom Sturm schieben. Das Sausen und Brausen ist Musik. Benni breitet die Arme aus und schreit vor Freude. Sie laufen durch das kleine Dorf, rings um ihn herum wirbelt alles in der Luft herum, was nicht genug Gewicht hat, um dem Sturm Widerstand leisten zu können. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, nur der achtjährige Junge mit seinem Windhund tollt mit den Kräften der Natur um die Wette. Als würde ihn jemand an der Hand führen, rennt er aus dem Ort, bis zu dem kleinen Tal, das er so liebt und wo er immer die Naturgeister beobachtet.

      Die Beobachtung

      Es ist auf einmal sonderbar ruhig, der Sturm singt nicht mehr und kein einziges Blatt tanzt mehr durch die Luft.

      Benni setzt sich auf den alten Baumstamm am oberen Ende des Tales und Mo legt sich neben ihn. Von hier oben hat er einen guten Blick und der wilde Haselnussstrauch bietet ihm Schutz, sodass ihn die Elfen und Kobolde, denen er so gern beim Tanzen zuschaut, nicht sehen können. Aber heute ist keine der bunten, geflügelten Blumenkinder da und auch die knolligen Trolle sind nicht zu sehen. Über der Wiese, die sich langhin erstreckt, und dem schmalen Bach, der das Tal in zwei Hälften teilt, liegt eine merkwürdige Stimmung. Ganz eingehüllt in das dämmrige Licht der verschleierten Abendsonne und dem aus dem Gras aufsteigenden Wasserdunst scheint die Welt etwas Besonderes zu erwarten – und Benni stellt sich schon mal auf eine längere Beobachtung ein. Er zieht einen der Schokoriegel aus seiner Jackentasche, von denen er immer welche dabei hat, puhlt ihn aus dem Papier und knabbert genüsslich.

      In der Ferne taucht ein Licht auf, das tanzend wie eine Spirale immer näher kommt, und oben am Himmel erscheinen Luftgeister, aber solche, die er noch nie zuvor hier gesehen hat. Unten am Boden scheint sich etwas aus der Erde herauszuwühlen, denn der dunkelbraune Erdboden wird nach oben geworfen und ein riesiger Erdhügel, der aussieht wie ein haushoher Maulwurfhaufen, türmt sich auf. Aus der Tiefe der Erde erscheinen violett-graue Gestalten, die sich aus den Erdhügeln herausstemmen. Sie sind menschengroß, sehen wie wandelnde Tropfen aus und ihre Haut schimmert ölig und schmierig.

      Der kleine Bach sprudelt und spritzt sein Wasser in meterhohen Fontänen in die Luft und schleudert schlanke, elegante Undinen hervor. Die gerade noch so angenehme Stille wird von einem Gewirr aus unzähligen Stimmen hinweggelärmt.

      Benni duckt sich etwas tiefer in das Dickicht des Haselnussstrauches, denn die Typen, die da erscheinen, sind bisher noch nie hier gewesen und er kennt sie auch nicht.

      Sie versammeln sich alle auf der Wiese des Tales und schreien und rufen durcheinander, sodass man kein einziges Wort verstehen kann. Doch auf einmal verstummen sie und weichen zurück. Durch ihre Mitte schreitet eine Frau, der eine Schar von Wald- und Blumenwesen folgen, auf ihrem Kopf trägt sie einen großen, goldgelb strahlenden Kranz aus Ähren, und Blumenkränze aus solch prächtigen Blüten, wie sie Benni noch nie zuvor gesehen hat, baumeln um ihren Hals. Er muss sich die Hand vor den Mund halten, sonst hätte er vor Freude laut gesungen, denn er liebt Blumen über alles. Sie hat mehrere Arme, und Benni zählt leise: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – Mo, siehst du das?“, flüstert er. „Sie hat sechs Arme!“

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      In jeder Hand ihrer sechs Arme hält sie etwas anderes. In einer trägt sie eine Schale mit Obst, in einer anderen einen Teller mit einem üppigen Mahl aus Fleisch und Gemüse, die nächste Hand hält ein Musikinstrument, das wie eine kleine Harfe ausschaut, auf der anderen Seite trägt sie ein Buch und in dem unteren Handpaar hält sie einen Korb, aus dem wunderschöne Edelsteine hervorstrahlen. Die ganze sonderbare Gesellschaft aus Naturgeistern verbeugt sich vor ihr und vier dieser Wesen, die aussehen, als hätte man sie aus einem alten Baumstamm geschnitzt, stellen sich zusammen und verbiegen ihre Gliedmaßen, sodass ein Thron entsteht, und die schöne sechsarmige Frau setzt sich darauf.

      „Wir grüßen dich, geliebte Terra!“, rufen alle wie aus einem Mund. „Wir huldigen dir, du Muttererde!“

      Eine junge Fee in einem wasserblauen Kleid hat einen Krug in der Hand, sie schöpft etwas Wasser aus dem kleinen Bach, gießt es schwungvoll über die Wiese und sogleich entspringen der kleinen Wasserlache allerlei Tiere: Fische, Rehe, Vögel, Insekten, und alle lagern sich um Terra, die Erdmutter.

      „Wir grüßen dich, große Terra, Mutter unseres Seins!“, rufen nun auch die Tiere aus und verneigen sich ehrfürchtig.

      Mo lässt ein kurzes „Wuff“ los und sofort schauen alle in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Benni drückt Mo zu Boden und duckt sich ganz flach an den Baumstamm. „Du musst dich beherrschen“, wispert er in Mos Ohr, „sonst entdecken sie uns!“

      Ein gigantischer Typ, der wie ein wandelnder Berg aussieht, mit kantigem Gesicht, tiefen Furchen an den nackten, grauen Beinen, an denen lange Bartflechten baumeln, tritt in die Mitte. Er hält einen Metallstab in seinen groben Händen, den er mit eigentümlich starren, eckigen Bewegungen in die Erde rammt. „Lasst uns die Versammlung eröffnen!“, ruft er in die Runde.

      „Nein, wir warten noch auf die Universianer“, sagt Muttererde Terra, „und natürlich hoffe ich, dass auch Theia, meine liebe Schwester, erscheint.“

      „Theia?“ Ein allgemeines Gemurmel ertönt unter den Anwesenden und Benni erschnaufelt, dass so manches der eigentümlichen Geschöpfe Angst hat.

      „Weißt du, wer Theia ist?“, flüstert er in Mos Ohr.

      Mo hebt den Kopf und weist damit auf den Mond, der seine schmale Sichel im Osten erscheinen lässt. Er öffnet den Fang, aber bevor er seinen langgezogenen Mondgruß ertönen lassen kann, hält ihm Benni noch schnell das Maul zu. „Bleib jetzt bloß still!“, zischt er seinen Hundefreund an.

      Der silbrig schimmernde Halbmond hebt sich in sanftem Kontrast von dem weichen Dunkel des frühen Abendhimmels ab. Ein blassweißer Kreis umgibt ihn, dehnt sich ganz langsam wie eine riesengroße Seifenblase in alle Richtungen aus und senkt sich schließlich in langen, wässrigen


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