Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen. Annerose Matz-Donath
Geburtstags-Sonntag für Ihre Jüngste. Der zweite Geburtstag ist es, aber der erste, den das Kind bewußt erlebt und auf den es sich seit Wochen freut. Alles haben Sie schon gerichtet. Nur das Blumenkränzchen für den kleinen Blondschopf muß noch geflochten werden. Da klingelt es an Ihrer Wohnungstür. Zwei Soldaten – fremde Uniformen – umgeschnallte Pistolen.
Einer drängt in die Tür, hat den Fuß auf der Schwelle. Und ehe Sie recht begreifen, was da vor sich geht, trifft Sie schon wie ein Schlag der Befehl:
„Aufmachen!“ – „Mitkommen!“
„Ich…?-Wieso ….? – Und ….wohin… ?“
„Eine Aussage nur!“
In Ihr zögerndes, ratloses Fragen hinein:
„Eine Aussage – ich…? Wieso ich…?“ Und: „Das muß doch ein Irrtum sein… !?“
Da packt der eine Soldat schon zu. Sein brutaler Griff reißt sie fast von den Füßen, macht Sie stolpern – ins Treppenhaus, die Stufen hinunter, aus der Haustür …
„Das Kind – mein Gott! – ganz allein in der Wohnung …“
fährt es schneidend durch Ihren Sinn. Von Panik erfaßt, spannen sie alle Kraft, um sich loszureißen, holen aus und – erwachen im eigenen Bett, eine Faust ins Kissen gebohrt.
Ein Albtraum nur, und einer, den Sie in Wirklichkeit sicherlich niemals träumten.
Doch hätten Sie je so geträumt – nicht länger als ein, zwei Sekunden hätte der Nachklang von Angst und Schrecken Ihnen das Bild der vertrauten Wirklichkeit verdunkelt. Vorausgesetzt – ja, vorausgesetzt, dass Ihnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ihr Wohnort nicht zum Schicksal geworden wäre, wie vielen Männern und Frauen in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, Brandenburg und in Mecklenburg.
Bitterer Abschied
Dort fing damals für viele ein anderer, ein ganz realer Albtraum an, in dem das Grauen der Tage in die Träume der Nacht und wieder in die Tage hinüberschwang – in Hunderte, nein – in Tausende, Abertausende leidzerquälte Tage. Ein Albtraum, den Menschen im Westen nie träumen mußten. Renate Siebert, damals in Sachsen-Anhalt zu Hause, blieb er nicht erspart. Sie erinnert sich:
„Es war kurz nach Ostern 1948, an einem 6. April. Das Datum werde ich nie vergessen. Denn es ist der Geburtstag meiner Jüngsten. Sie wurde damals gerade zwei. Die Ältere ging seit Ostern in die Schule. Auf die Geburtstagsfeier hatten sich beide Kinder schon lange gefreut. Auch die Kleine. In dem Alter fangen sie ja langsam an zu verstehen. Gerade hatte ich ihr ein Blumenkränzchen gebunden, wie sie es sich wünschte. Genau so eines, wie ihn das kleine Mädchen auf einer Geburtstagskarte trug. Aufsetzen konnte ich’s ihr nicht mehr. ‚Dawai, dawai!‘ – Schnell, schnell, forderten die Männer mit den blauen Kragenspiegeln des NKWD. Und schon fiel die Wohnungstür hinter mir zu.“
Jahrelang ließ die Erinnerung an die verschreckten Gesichter ihrer beiden kleinen Mädchen die Gefangene im Schlafen und im Wachen nicht los. Doch aus diesem Schmerz, aus der Sorge um ihre Kinder erwuchs ihr auch immer wieder die Kraft, allen Leiden und Nöten zum Trotz die Haftjahre durchzuhalten.
In der Sprache der Akten braucht’s nie viele Worte, um ein Schicksal zu fassen. Knappe zehn Zeilen genügen für das der Renate Siebert:
-Geboren 1914, verheiratet, Hausfrau, zwei Kinder (1942 und 1946).
-Verhaftet am 6. April 1948 in Halle/Saale
„wegen Sammeln von Spionage-Informationen betreffs der Sowjetarmee und der Wirtschaft und Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“.
-Verurteilt dafür am 4. September 1948 zu fünfundzwanzig Jahren Straf- und Arbeitslager.
-„Gnadenhalber“ nach acht Jahren am 31. Juli 1956 vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen.
-Am 18. Oktober 1994 in Moskau rehabilitiert
als „zu Unrecht“ verurteilt und eingesperrt. Denn – so die russische Militärgeneralstaatsanwaltschaft heute:
„(…) Die Akten enthalten keinerlei Beweismittel über (…) eine Spionagetätigkeit oder andere verbrecherische Handlungen zum Schaden der UdSSR (…)“
Wie soll man beschreiben, was es heißt, als Opfer politischer Willkür acht Jahre in Sachsenhausen und Hoheneck am Rande des Hungers zu vegetieren? Von der Familie – ja, von Welt und Leben überhaupt so total getrennt und isoliert, wie nicht einmal die Nazi-KZs es kannten! Wie lebte es sich in solcher Verlassenheit unter dem ständigen Druck eines Urteils, das mit seinen fünfundzwanzig Jahren doch auf ein Lebenslänglich hinauslief? Die Antwort auf solche Fragen steht in keiner Akte verzeichnet! Sie wäre auch nicht in einige knappe Zeilen zu fassen – so wenig, wie das Leben „danach“. Was hielt es für Irene Siebert bereit?
Sie stand vor dem Nichts wie fast alle ihre entlassenen Kameradinnen und Kameraden. Der Kreis, der ihr Leben ausgemacht hatte, die Familie, war zerbrochen. Ihr Mann hatte längst eine neue Ehe geschlossen. Die Kinder kannten die Mutter nicht mehr. Ihre einzige Schwester war ohne sie zu Grabe getragen worden. So kam zu der äußeren materiellen Not die innere einer unsäglichen Einsamkeit. Es war keiner mehr da, der sie liebevoll in die Arme geschlossen hätte.
Wenn sie jetzt, als alte Frau, auf ihr Leben zurückblickt, sind es nicht die bis heute reichenden Folgen der materiellen Verluste von damals, die sie bekümmern. Noch immer stehen die Kinder im Mittelpunkt ihrer Gedanken:
„Es kam alles ganz anders, als ich’s mir erträumte. – Der Frau, die meinen Mann geheiratet hatte, trage ich dabei nichts nach. Wäre es nicht die, dann wäre es eine andere gewesen. Sie hat mir einen sehr anständigen Brief geschrieben, als ich entlassen worden bin: Sie hätte meinen Mann nur geheiratet der Kinder wegen. – Mag sein, dass es stimmte.
Das Tragischste ist, wie die Kinder seelisch gelitten haben. Am meisten meine Älteste. Das ist spürbar bis auf den heutigen Tag, da sie selber bald 50 wird. Als ich abgeholt wurde, war sie sechs. Ich stelle sie mir immer vor, in den Jahren, wo ich weg war: wie ein schwaches, schwankendes Schilfrohr im Wind, das gebeugt und gebeutelt wird und nicht weiß, wohin sich zu wenden. Besonders, nachdem meine Schwester verstorben war. An ihr hingen die Kinder. Sie war immer wie eine zweite Mutter für sie gewesen.
Die Kleinere, an deren zweitem Geburtstag ich verhaftet wurde – mit der habe ich überhaupt niemals wieder richtig Kontakt gekriegt, als beide Kinder nach meiner Rückkehr schließlich doch zu mir kamen. So, als wäre sie gar nicht mein Kind, so entfremdet ist sie mir geblieben.
Natürlich – beide, heute erwachsen und gut erzogen, benehmen sich immer freundlich und lieb. Wenn einer sie jetzt anriefe, sagte, ihrer Mutter sei etwas zugestoßen und sie brauche Hilfe, dann würden sie natürlich kommen. Alle beide. Sofort. Aber dieses Innige, Warme zwischen Mutter und Kindern, das ist leider niemals wieder aufgekommen. Bis heute nicht. Beide wollen auch nichts hören von früher, wollen gar nichts hören. Dieses Schweigen drückt mir auf die Seele. Den bittersten Teil meines Lebens verschweigen zu müssen, als wäre es meine Schande – das ist es wohl auch, was die große Fremdheit zwischen mir und den Kindern macht.“
Zwei kleine Kinder, etwa im gleichen Alter, ließ auch Renate Kunze zurück, als die damals 35-jährige Hausfrau im Februar 1946 dem NKWD in die Hände fiel. Frau Kunze war erst gegen Ende des Krieges aus Wilhelmshaven nach Mitteldeutschland gezogen. Den englischen und amerikanischen Fliegerbomben war sie damit entronnen. Dass die Zukunft für die Mitte Deutschlands Schlimmeres bereithielt als nächtliche Fliegeralarme, das konnte wohl keiner damals ahnen.
So erinnert Irene sich heute:
„In Wilhelmshaven fielen damals, 1944, so viele Bomben; jede Nacht! Und ich war schwanger, erwartete mein zweites Kind. Wie viele andere Frauen mit kleinen Kindern wurde auch ich deshalb in ein ruhigeres Gebiet ‚evakuiert‘. Mit meiner damals vierjährigen