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„abgeholt“ worden, wie man damals landläufig sagte? Eines Tages hatte eine flüchtige Bekannte sie angesprochen: Sie habe doch noch von ihrem gefallenen Mann Zivilanzüge im Schrank. Ob sie damit nicht einem helfen könne, der kein Zuhause mehr habe?

       „‚Wir haben da so einen Ritterkreuzträger’, sagte die Frau, ‚der lag mit seiner kaputten Uniform im Wald, den mußten wir fast nackt ausziehen, der braucht Anzüge!’ Und so gab ich der Frau dann die gesamte zivile Kleidung meines Mannes mit. Denn was sollte ich noch damit? Ja. Und so kam ich an den Florian. Unter diesem Namen hat er sich vorgestellt, und so haben wir ihn auch genannt, Florian Sowieso. Den Nachnamen habe ich schon lange vergessen. Ritterkreuzträger – ob er das war, weiß ich wirklich nicht. Spielte ja auch keine Rolle. Denn wer hilft nicht einem Menschen in Not?“

      Ein solcher Fall und eine solche Bitte waren damals in der Tat nichts Ungewöhnliches. Vielen Menschen war Haus und Heim im Bombenhagel untergegangen. Wer aus den verlorenen Gebieten im Osten und Süden Deutschlands stammte, konnte ja gar nicht mehr nach Hause. Auch dass dieser Florian anfing, Irene zu besuchen, schien unverfänglich. Ob es das wirklich war, darüber denkt sie heute noch manchmal nach:

      „Vor allem an ein Erlebnis erinnere ich mich sehr deutlich. Es wurde damals doch immer nur vorübergehend geheizt. Ich hatte den Küchenherd angemacht, um zu kochen, als der Florian kam. ‚Hu‘, sagte er, ‚ist es kalt!‘ Es war ja auch kalt, es war eisiger Januar. Ja, sagte ich, auch der Herd geht gleich aus. Da nahm er einen Küchenstuhl, stellte den auf den Herd und setzte sich drauf. Das machte mich stutzig – irgendwie kam es mir seltsam vor. So östlich – wie bei den Russen. Aber als mir das richtig zum Bewußtsein kam – später, in der Zelle erst, als ich viel Zeit zum Grübeln hatte – da war es zu spät.

       An den Ritterkreuzträger – nein, daran habe ich schon damals nicht geglaubt. Aber ob der Florian nicht ein Spitzel war?“

      Durch Florian hatte Frau Kunze auch zwei andere junge Frauen kennengelernt, Ursel Liebner und Hanna Schumann, die sich dann mit ihr zusammen vor dem sowjetischen Kriegsgericht wiederfanden:

      „Ursels Eltern hatten ein Lokal, eine altdeutsche Gaststube mit einem kleinen Hotel dabei. Hanna und ihre Eltern wohnten damals dort. Hanna half in der Küche aus, wo auch für Russen gekocht werden mußte. Ursel hatte während des Krieges in Frankreich studiert. Sie war gerade erst nach Hause zurückgekommen.

      Die beiden jungen Frauen waren befreundet. Und Florian – ja, irgend jemand hatte ihn auch zu Ursels Eltern gebracht. Die hatten ihn aufgenommen und er kriegte da auch was zu essen. So kamen wir alle an ihn, und über ihn wurden wir auch miteinander bekannt. Denn einmal, als die beiden Mädchen ihn suchten, fiel ihnen ein, er hätte meine Adresse genannt. So kamen sie bei mir an, Ursel mit einem Hund, einem Riesenschnauzer so groß wie ein Kalb.

       Die beiden fanden es so gemütlich bei mir, dass sie immer wieder kamen und mit den Kindern spielten. Die waren ja wirklich goldig damals, im süßen Alter von zwei und fünf.“

      Auch Ursel Liebner und Hanna Schumann, für die Florian zum Schicksal geworden ist, begannen nach ihrer Verhaftung an seiner Identität zu zweifeln. Hanna Schumann heute:

      „Es war Silvester 1945. Da kam ein angeblicher Offizier, Ritterkreuzträger, wie er sich ausgab, aus Beuthen in Schlesien. Uns hat er erzählt, er hätte der Irene Kunze eine Nachricht ihres gefallenen Mannes gebracht. Er brachte zwei junge Frauen mit, Thekla Sommer und Erni Kaiser, die inzwischen verstorben ist. Auch Ursel Liebner lebt übrigens heute nicht mehr. Beiden Frauen hatte der Mann, der sich mit Vornamen Florian nannte, versprochen, sie in den Westen zu bringen. Doch vorerst waren alle drei in Suhl gelandet. Sie wohnten in Liebners Fremdenzimmern und aßen in der Gaststube unten. Liebners fütterten alle drei mit durch.

       Am Silvesterabend saßen wir Hausbewohner alle im Gastzimmer beisammen. Da sagte dieser bewußte Offizier, es würde nun alles wieder gut werden. Der Russe werde wieder rausziehen. Und wir würden wieder frei werden. Wenn wir mit dem Westen gingen, würde uns nichts passieren. Ja, das hat er so erzählt. Aber was sollten wir schon dazu sagen? Von irgend etwas Politischem war sonst gar nicht die Rede.“

      Bei einer Routine-Razzia gegen Jahresende 1945 hatten russische Soldaten auch das Lokal und die Fremdenzimmer durchkämmt. Einer hatte dabei an Hanna Schumanns Armbanduhr zu viel Gefallen gefunden und sie eingesteckt.

       „Ja, da hatte also einer meine Uhr mitgenommen. Und jetzt, bald nach dem Sylvesterabend, erscheinen eine Russin und zwei Russen mit Revolvern bei uns. Ursel Liebner hatten sie schon im Hause erwischt und holten nun auch mich aus der Wohnung raus. ‚Anziehen! Kurz mitkommen zur Kommandantur!’ Ich denke, das ist wegen meiner Uhr. Und die Liebners und meine Eltern waren ganz erstaunt, sagten: ‚Was ist denn los da im Hausflur?’

      Diese Russin nahm eine Mappe mit all meinen Zeugnissen und Schuldokumenten mit. Wir wurden gar nicht gefragt. Und dann haben sie bei Liebners ausgeräumt! Alles mögliche, was die so an Wertgegenständen hatten.

      Wir sollten mit zur Kommandantur. Und kommen runter, da steht schon ein Auto, ein größerer Wagen, und wir zwei da rein. Und wie wir auf den Gefängnishof kommen, in Suhl, da steht dort – im Gefängnishof – schon alles voller Menschen. Der Hund von Liebners ist dem Wagen nachgelaufen bis zum Gefängnis. Das hat man uns hinterher erzählt, als wir nach vielen Jahren nach Hause kamen. Der Hund ist noch tagelang von der Wohnung zum Gefängnis gelaufen und hat uns gesucht.

      Ja, dann waren wir also weg, Irene Kunze, Erni Kaiser, Ursel Liebner, Thekla Sommer und ich auch. Auch die junge Hedda Böhler gehörte dazu, eine 16-Jährige, deren Großvater der älteste Kommunist unseres Ortes war. Selbst da haben sie nicht Halt gemacht. Nur der Mann, der sogenannte Florian, der war weg.

       Wir wurden nach Schmalkalden geschafft. Dort landeten wir in einem Keller. Vier Wochen weiter wurden wir nach Weimar gebracht. Da war das große Tribunal – und wir waren plötzlich eine illegale Organisation. Dabei war nichts gewesen, als dass wir am Silvesterabend im Lokal zusammengesessen hatten, und der sagte ‚Nun wird alles wieder gut’. Pro-westlich eben. Das war es. Aber wir haben uns nie zusammengetan. Es hat nie eine Zusammenkunft gegeben – nur den einen einzigen Abend am Silvestertag.“

      Zwei Frauen – zwei Seiten einer Alltagsgeschichte jener Zeit, so banal wie nur irgend eine. Vor dem Tribunal hörte sich alles plötzlich ganz anders an. Frau Kunze fand sich wieder als Haupt einer Verschwörung – als „Eckmann“, wie sie selbst es beschreibt, zu der sich dreizehn junge Frauen und Mädchen zusammengefunden haben sollten. Manche, wie Hedda Böhler, waren kaum dem Kindesalter entwachsen. Nur sieben stammten aus Suhl, und die meisten sahen sich vor dem Tisch des Tribunals zum allerersten Male. Der angebliche Frontsoldat, dem alle Familien geholfen hatten, war nicht dabei. Und so verstärkte sich der Verdacht, dass er ein Spitzel des NKWD gewesen war. Manche Deutsche verdienten sich seinerzeit in der Sowjetischen Besatzungszone auf solche Weise eigene Straffreiheit für politische Verstrickungen – oder auch nur ein Stück Speck zum trockenen Brot. 3.083 Deutsche zählte, wie man heute weiß, das Spitzelnetz des NKWD schon im Frühjahr 1946. Dazu über 100 Russen und Polen, die schon Anfang 1945 geworben worden waren.

      Mehr als 3.000 Spitzel gegen weniger als 17 Millionen Menschen – das war ungeheuer viel, wenn man es mit der Zahl der Denunzianten vergleicht, die in der Nazizeit für die GESTAPO tätig waren: es waren 3.000 bis höchstens 5.000 Personen gegen rund 80 Millionen gewesen. Die STASI in der späteren DDR sollte es gegen 16 Millionen Bürger sogar auf 173.000 ‚inoffizielle Mitarbeiter’ bringen. Ein absoluter Rekord!

      Doch zurück zu Irene Kunze. Sie hatte angeblich auch noch einem amerikanischen Freikorps angehört und 150 Russen umgebracht. Dabei hatte sie weder mit einem Amerikaner noch mit einem Russen je auch nur ein Wort gewechselt. In ihrer Hohenecker Gefangenenkarte ist auch nur eine „Mitgliedschaft in faschistischer Untergrundorganisation“ vermerkt.

      Irene war nicht die einzige SMTerin, der in den Vernehmungen ein solcher Massenmord angelastet wurde, ohne dass er später als Grund der Verurteilung in den Akten erschien. Ein „amerikanisches Freikorps“ gab es natürlich auch


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