Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre


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versus »Wohnraum«) sorgt für einige Verwirrung. Lefebvre greift hier einen Begriff der Chicago School auf, die in Anlehnung an biologische Episteme die Stadt als sozialökologisches System auffasst. Bezeichnete das Habitat ursprünglich ein Milieu (Lebensraum), so gilt es nun als Synonym für Wohnbedingungen (z. B. l’habitat pavillonaire, »Eigenheimvorstadt«). Habiter steht hingegen für eine aktive und kreative Tätigkeit des Menschen (vgl. Guelf 2010, S. 96 f.; Meyer 2007, S. 263).

      I Von der Stadt zur verstädterten Gesellschaft

      Allem voran sei eine Hypothese gesetzt: die von der vollständigen Verstädterung der Gesellschaft. Wir werden für diese Hypothese Beweise erbringen und sie mit Fakten untermauern müssen. Unsere Hypothese enthält eine Definition. Wir wollen also die Gesellschaft eine »verstädterte« nennen, die das Ergebnis einer vollständigen – heute potentiellen, morgen tatsächlichen – Verstädterung sein wird. Eine solche Definition setzt der Vieldeutigkeit der Begriffe ein Ende. Denn bislang verstand man alles mögliche unter einer »verstädterten Gesellschaft«: den griechischen Stadtstaat, die orientalische oder die mittelalterliche Stadt, die Handels- oder die Industriestadt, Kleinstadt oder Großstadt. Damit entsteht ein Zustand extremer Verwirrung, bei dem man die Gesellschaftsbeziehungen außer acht läßt oder ausklammert, aus denen der jeweilige Stadttypus entstanden ist. Man vergleicht »verstädterte Gesellschaften« miteinander, die in nichts vergleichbar sind, um die jeweilige Ideologie zu belegen: den Organizismus (jede »verstädterte Gesellschaft« wird für sich genommen und gilt als organisches »Ganzes«), die Kontinuitätslehre (die eine historische Kontinuität bzw. ein ständiges Vorhandensein der »verstädterten Gesellschaft« postuliert), den Evolutionismus (Zeitabschnitte, die Gesellschaftsbeziehungen verwischen bzw. sie verschwinden machen). Wir wollen uns den Ausdruck »verstädterte Gesellschaft« für eine Gesellschaft vorbehalten, die aus der Industrialisierung entsteht. Unter »verstädterter Gesellschaft« verstehen wir also eine Gesellschaft, die aus eben diesem Prozeß hervorgegangen ist und die Agrarproduktion beherrscht und aufbraucht. Diese verstädterte Gesellschaft entsteht erst nach Beendigung eines Prozesses, in dessen Verlauf die alten Stadtformen zerfallen, abgelöst von zusammenhanglosen Veränderungen. Ein wesentlicher Aspekt des theoretischen Problems besteht darin, daß Diskontinuitäten und Kontinuitäten miteinander in Beziehung gesetzt werden und umgekehrt. Denn wie könnte eine absolute Zusammenhanglosigkeit bestehen, ohne daß unter der Oberfläche Zusammenhänge vorhanden wären, ohne Gemeinsamkeiten, ohne daß ein inhärenter Prozeß abliefe? Und wie gäbe es umgekehrt eine Kontinuität ohne Krisen, ohne das Auftauchen neuer Elemente und neuer Beziehungen?

      Die einzelnen Wissenschaftszweige (die Soziologie, die politische Ökonomie, die Geschichte, die Humangeographie usw.) haben zahlreiche Benennungen vorgeschlagen, die »unsere« Gesellschaft mit ihren Realitäten, ihren unter der Oberfläche vorhandenen Strömungen, ihren Fakten und Möglichkeiten charakterisieren sollten. Man hat von der Industriegesellschaft und in jüngerer Zeit von der nachindustriellen Gesellschaft gesprochen, von der Gesellschaft des technischen Zeitalters, der Wohlstandsgesellschaft, der Freizeitgesellschaft, der Konsumgesellschaft usw. Jede solche Benennung enthält einen Teil der empirischen oder begrifflichen Wahrheit, der Rest ist Übertreibung und Extrapolierung. Um die Gesellschaft der nachindustriellen Zeit, also die aus der Industrialisierung hervorgegangene und ihr folgende zu benennen, wird hier der Begriff verstädterte Gesellschaft vorgeschlagen, womit mehr eine Tendenz, eine Richtung, eine Virtualität und weniger ein fait accompli zum Ausdruck gebracht werden sollen. Infolgedessen bleibt die kritische Darstellung zeitgenössischer Realitäten, etwa die Analyse der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft«, davon völlig unberührt.

      Es handelt sich also um eine theoretische Hypothese, die zu formulieren und als Ausgangsbasis zu benutzen das wissenschaftliche Denken berechtigt ist. Dieses Verfahren ist in der Wissenschaft nicht nur gang und gäbe, sondern sogar notwendig. Ohne theoretische Hypothesen keine Wissenschaft. Schon jetzt muß darauf hingewiesen werden, daß unsere Hypothese, die sogenannten »Gesellschaftswissenschaften« betreffend, eng mit einem epistemologischen und methodologischen Begriff verbunden ist. Erkenntnis muß nicht unbedingt Kopie oder Abbild, Vortäuschung oder Nachbildung eines schon jetzt tatsächlich vorhandenen Objektes sein. Umgekehrt wird sie ihr Objekt nicht unbedingt im Namen einer der Erkenntnis vorausgehenden Theorie aufbauen – einer Theorie über das Objekt oder die »Modelle«. Für uns hier ist das Objekt in der Hypothese enthalten, die Hypothese befaßt sich mit dem Objekt. Nun befindet sich dieses »Objekt« zwar jenseits des (empirisch) Feststellbaren, dennoch ist es nicht fiktiv. Wir setzen ein virtuelles Objekt ein, die verstädterte Gesellschaft, ein mögliches Objekt also, dessen Entstehen und Wachstum, in Verbindung mit einem Prozeß und einer Praxis (einer Aktion), wir darlegen wollen.

      Freilich muß die Gültigkeit dieser Hypothese bewiesen werden, wir werden nicht zögern, immer wieder auf sie hinzuweisen und darin nicht nachlassen. Weder an Argumenten noch an Beweisen, die für sie sprechen, angefangen bei den einfachsten bis hinauf zu den subtilsten, fehlt es uns.

      Wir brauchen wohl nicht weiter auf den weltweiten Autonomieverlust der Agrarproduktion in den großen Industrieländern hinzuweisen, darauf, daß sie weder der wichtigste Wirtschaftssektor mehr ist, noch auch ein Sektor mit hervorstechenden Merkmalen (es sei denn dem der Unterentwicklung). Wenn auch lokale und regionale Eigenarten aus einer Zeit, als die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig war, nicht verschwunden sind, gewisse Unterschiede hier und da sogar schärfer hervortreten, so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß die Agrarproduktion zu einem Sektor der Industrieproduktion geworden ist und sich deren Forderungen und Zwängen unterwirft. Wirtschaftswachstum und Industrialisierung – Ursache und oberste Daseinsberechtigung zugleich – ziehen Landstriche, Länder, Völker und Kontinente in ihren Bann. Das Ergebnis: Die für das bäuerliche Dasein typische traditionelle Gemeinschaft, das Dorf, wandelt sich; es geht in größeren Einheiten auf oder wird von ihnen überdeckt. Der Industrie angegliedert, konsumiert es deren Erzeugnisse. Hand in Hand mit der Konzentration der Bevölkerung geht die Konzentration der Produktionsmittel. Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins. Mit »Stadtgewebe« ist nicht nur, im strengen Sinn, das bebaute Gelände der Stadt gemeint, vielmehr verstehen wir darunter die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes. Mehr oder weniger dicht und aktiv, spart es nur stagnierende oder im Verfall befindliche Gebiete aus, eben die der »Natur« vorbehaltenen. Für die Agrarproduzenten, die »Bauern«, zeichnet sich am Horizont die Agrarstaat ab, das einstige Dorf verschwindet. Chruschtschow hatte den sowjetischen Bauern die Agrarstadt versprochen, und hier und da auf der Erde entsteht sie bereits. So gibt es in den Vereinigten Staaten – von gewissen Gebieten in den Südstaaten abgesehen – praktisch keine Bauern mehr; es gibt nur Inseln ländlicher Armut neben


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