Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre


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entstehen: Vororte, Wohnviertel oder Industriekomplexe, Satellitenstädte, die sich kaum von verstädterten Marktflecken unterscheiden. Kleinstadt und mittelgroße Stadt geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, werden praktisch zu Kolonien der Großstadt. Somit drängt sich unsere Hypothese als Endpunkt bislang erworbener Kenntnisse und zugleich als Ausgangspunkt für eine neue Untersuchung und einen neuen Entwurf auf: die vollständige Verstädterung.

      Die Hypothese greift vor. Sie projiziert die Grundtendenz der Gegenwart in die Zukunft. Überall und mitten in der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft« wächst die »verstädterte Gesellschaft« heran.

      Das negative Argument, die Gegenprobe durch das Absurde: keine andere Hypothese, die taugen, keine, die sämtliche Probleme erfassen würde. Die nachindustrielle Gesellschaft? Das heißt eine Frage aufwerfen: Was kommt nach der Industrialisierung? Die Freizeitgesellschaft? Das heißt, sich mit einem Teil des Problems zufriedenzugeben, man beschränkt die Untersuchung von Tendenzen und Möglichkeiten auf die »Ausrüstung«, womit man realistisch bleibt, ohne dabei den demagogischen Charakter der Definition zu beeinträchtigen. Gewaltiger und endlos ansteigender Konsum? Hier begnügt man sich mit der Erfassung der Zeitzeichen und extrapoliert, riskiert es so, Realität und Virtualität auf einen einzigen ihrer Aspekte zu reduzieren. Und so weiter. Der Ausdruck »verstädterte städterte Gesellschaft« entspricht einem theoretischen Bedürfnis. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine literarische oder pädagogische Darstellung, noch auch um die Formulierung erworbenen Wissens, sondern um eine Entwicklung, eine Untersuchung, ja um eine Begriffsbildung. Ein Denkvorgang auf ein bestimmtes Konkretes, vielleicht sogar das Konkrete überhaupt hin, zeichnet sich ab und nimmt Gestalt an. Diese Bewegung wird, wenn sie sich bestätigt, zu einer neu ergriffenen oder wieder aufgegriffenen Praxis, der städtischen Praxis, führen. Ohne Zweifel ist eine Schwelle zu überwinden, bevor man auf konkretes Gebiet, also auf das – zuvor theoretisch erfaßte – der sozialen Praxis vorstößt. Es geht nicht darum, ein empirisches Rezept zu suchen, um das Produkt, nämlich die städtische Wirklichkeit, zu fabrizieren. Aber gerade das erwartet man doch allzu häufig vom »Urbanismus«, und gerade das versprechen die »Städteplaner« nur allzuoft. Im Gegensatz zu einer feststellenden Empirie, zu abenteuerlichen Extrapolierungen, als Gegensatz schließlich zu einem angeblich verdaulichen, weil tröpfchenweise mitgeteilten Wissen, ist da eine Theorie, die sich vermittels theoretischer Hypothese ankündigt. Diese Suche, diese Entwicklung wird in methodischen Schritten vor sich gehen. So trägt zum Beispiel die Suche nach einem virtuellen Objekt, der Versuch, dieses zu definieren und an Hand eines Projektes zu verwirklichen, schon einen Namen. Neben klassischen Methoden wie der Deduktion und der Induktion haben wir die Transduktion (Reflexion über das mögliche Objekt). Somit ist der hier eingeführte Begriff der »verstädterten Gesellschaft« eine Hypothese und eine Definition zugleich. Desgleichen werden wir, uns dabei des Ausdrucks »Revolution der Städte« bedienend, im folgenden darunter die Gesamtheit der Wandlungen und Veränderungen zu verstehen haben, die unsere heutige Gesellschaft durchschreitet, um von einer Epoche, deren maßgebliche Probleme Wachstum und Industrialisierung (Modell, Planung, Programmierung) sind, zu jener überzugehen, wo die durch Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben und die Suche nach den Lösungen und nach den für die verstädterte Gesellschaft spezifischen Modalitäten größte Bedeutsamkeit gewinnt.

      Manche Umwälzungen werden abrupt vor sich gehen, andere allmählich, vorgeplant, erwartet und konzertiert sein. Welche? Man wird versuchen müssen, eine so berechtigte Frage zu beantworten. Es gibt allerdings keine Gewähr dafür, daß die Antwort klar, befriedigend und eindeutig sein wird. Der Ausdruck »Revolution der Städte« deutet nicht unbedingt auf gewaltsame Aktionen hin. Ausgeschlossen sind sie allerdings nicht. Wie aber sollte man voraussagen können, was auf gewaltsame, was auf vernünftige Weise erreicht werden wird? Ist es nicht das Wesen der Gewalttätigkeit, unvermittelt zum Ausbruch zu kommen? Und ist es nicht das Wesen des Denkens, Gewalttaten auf ein Minimum zu beschränken, indem es denkend die Fesseln bricht?

      Zwei Marksteine stehen auf dem Weg, den der Urbanismus einschlagen wird:

      a) Seit einigen Jahren betrachtet man vielerorts den Urbanismus als eine soziale Praxis wissenschaftlichen und technischen Charakters. In diesem Fall könnten und müßten die theoretischen Überlegungen sich auf diese Praxis erstrecken, sie auf ein begriffliches oder, genauer, auf ein epistemologisches Niveau heben. Folglich ist das Nichtvorhandensein einer solchen Epistemologie des Urbanismus auffallend. Werden wir nun hier versuchen, diese Lücke zu schließen? Nein. Denn diese Lücke hat einen Sinn. Stimmt es nicht, daß das, was wir Urbanismus nennen, vorerst noch mehr institutionellen und ideologischen als wissenschaftlichen Charakter trägt? Wenn wir annehmen, daß das Verfahren zu verallgemeinern und jede Erkenntnis nur über die Epistomologie zu gewinnen sei, so scheint das für den heutigen Urbanismus dennoch keine Geltung zu haben. Man wird herausfinden und erklären müssen, warum dem so ist.

      b) Der heutige Urbanismus – als Politik (in zweifachem Sinn als Institution und Ideologie) – wird von zwei Seiten her angegriffen, von der Rechten wie von der Linken.

      Die Kritik der Rechten, von jedermann beachtet, ist zuweilen vergangenheitsgläubig, oft humanistisch. Sie beinhaltet und rechtfertigt, direkt oder indirekt, eine neo-liberale Ideologie – die »freie Marktwirtschaft« – und fördert in jeder Weise die »Privat«-Initiative der Kapitalisten und ihres Kapitals. Die Kritik der Linken – und das ist weniger bekannt – wird nicht von der einen oder anderen Gruppe oder Partei, dem einen oder anderen Klub, Apparat oder den der Linken »zugerechneten« Ideologen formuliert. Sie ist vielmehr bemüht, dem Möglichen einen Weg freizumachen, Neuland zu erforschen und zu markieren, wo es nicht nur das »Wirkliche«, das bereits Erreichte gibt, das nicht schon von den vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kräften beherrscht ist. Sie ist daher eine u-topische Kritik, denn sie distanziert sich vom »Wirklichen«, ohne es jedoch aus den Augen zu verlieren.

      Nachdem dies gesagt ist, wollen wir eine Achse zeichnen,

      die von der nicht existenten Urbanisierung (von der »reinen Natur«, der den »Elementen« ausgelieferten Erde) bis zur gänzlichen Vollendung des Prozesses gehen soll. Diese Achse, die die Wirklichkeit des städtischen Geschehens symbolisiert, verläuft sowohl im Raum als auch in der Zeit: im Raum, weil der Prozeß sich räumlich ausdehnt und den Raum verändert – in der Zeit, weil er sich in der Zeit entwickelt, ein zunächst nebensächlicher, dann aber dominierender Aspekt der Praxis und der Geschichte. Das Schema zeigt nur einen Aspekt der Geschichte: die Zeit wird bis zu einem bestimmten, abstrakten, willkürlich gesetzten Punkt zerschnitten, womit eine von vielen anderen Operationen vorgenommen wird (Einteilung in Zeitabschnitte), die im Vergleich zu anderen Einteilungen nicht privilegiert, wohl aber von gleicher (relativer) Notwendigkeit ist.

      Wir wollen einige Marksteine an den bis zur Verstädterung zurückgelegten Weg setzen. Was ist zu Beginn vorhanden? Populationen, die in den Bereich der Ethnologie, der Anthropologie fallen. Um diese Anfangsnull herum markierten und benannten die ersten Menschenhorden (Sammler, Fischer, Jäger, vielleicht Hirten) den Raum; sie erforschten ihn, indem sie Zeichen setzten. Sie erfanden Flurnamen, gaben die ersten Landmarken an. Der dem Boden verhaftete Bauer schuf in der Folge die Topologie und eine Raumaufteilung, die wohl vollkommen und genau war, den Raum aber nicht von Grund auf veränderte. Wichtig ist dabei, daß fast überall auf der Welt und wohl überall da, wo der Mensch ins Licht der Geschichte tritt, die Stadt dem Dorf auf dem Fuße folgte.

      Die Ansicht, aus der Urbarmachung des Landes, aus dem Dorf und der dörflichen Kultur sei allmählich ein städtisches Dasein erwachsen, ist ideologisch gefärbt. Das Geschehen in Europa nach dem Zerfall des Römischen Reiches und der Wiedergeburt der Städte im Mittelalter wird als allgemeingültig hingestellt. Jedoch läßt sich das Gegenteil unschwer beweisen. Der Übergang vom Wildbeutertum zum Ackerbau vollzog sich erst unter dem (autoritären) Druck städtischer Zentren, die im allgemeinen von geschickten Eroberern bewohnt wurden, die Beschützer, Ausbeuter und Unterdrücker, das heißt Verwalter, Gründer von Staaten oder staatsähnlichen Gebilden geworden waren. Mit oder kurz nach Entstehen eines organisierten gesellschaftlichen Lebens, von Ackerbau


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