Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre


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anwenden, in denen über lange Zeitabschnitte hinweg ein Halbnomadentum bestand, wo ein kümmerlicher Hackbau betrieben wurde. Und selbstverständlich stützt sie sich vor allem auf Analysen und Dokumente über die »asiatische Produktionsweise«, auf uralte Kulturen, die sowohl städtisches Leben als auch das ländliche begründeten (Mesopotamien, Ägypten usw.*). Die grundsätzliche Frage nach den Beziehungen zwischen der Stadt und dem Land ist noch weit entfernt von einer Lösung.

      So nehmen wir also das Risiko auf uns, die politische Stadt auf der Raum-Zeit-Achse in etwa an den Anfang zu setzen. Wer bevölkerte nun diese politische Stadt? Priester und Krieger, Fürsten, »Adelige«, Kriegsherren. Aber auch Administratoren, Schreiber. Ohne Schreibkunst – Dokumente, Befehle, Listen, Steuereintreibungen – ist die politische Stadt nicht vorstellbar. Sie ist ganz und gar Ordnung, Erlaß, Macht. Allerdings gehören Handel und Gewerbe dazu, wenn auch vielleicht nur, weil man sich mit beider Hilfe die zum Kriegführen und zur Erhaltung der Macht erforderlichen Rohstoffe (Metalle, Leder usw.) beschaffen, sie verarbeiten und instand halten konnte. Infolgedessen gibt es in ihr, wenngleich in untergeordneter Stellung, Handwerker und sogar Arbeiter. Die politische Stadt verwaltet ein oftmals weitläufiges Gebiet, schützt es und beutet es aus. Sie leitet die großen Aufgaben der Landwirtschaft: Trockenlegung, Bewässerung, Eindämmung, Urbarmachung usw. Sie herrscht über eine gewisse Anzahl von Dörfern. Das Land ist in erster Linie Eigentum des Herrschers, der Symbol für Ordnung und Tatkraft ist. Tatsächlich aber bleibt das Land im Besitz der Bauern und der Tribut zahlenden Gemeinwesen.

      Tauschgeschäft und Handel, die niemals fehlen, gewinnen an Bedeutung. Ursprünglich mochten sie von suspekten Leuten, den »Fremden«, wahrgenommen worden sein, aber bald werden sie auf Grund ihrer Funktion wichtig, Örtlichkeiten, die für Tausch und Handel bestimmt sind, tragen zunächst die Zeichen der Heterotopie. Gleich den dort lebenden und Handel treibenden Menschen sind auch sie ursprünglich von der politischen Stadt ausgeschlossen: Karawansereien, Märkte, Vororte usw. Der Prozeß der Integration von Markt und Ware (Menschen und Dingen) in die Stadt besteht über Jahrhunderte fort. Handel und Verkehr, unerläßlich sowohl zum Überleben als auch zum Leben, bringen Wohlstand und Bewegung. Die politische Stadt widersetzt sich dem mit ihrer gesamten Macht, ihrem ganzen Zusammenhalt; sie empfindet, sie erkennt die Bedrohung durch den Markt, die Ware, den Händler, durch deren Form des Eigentums (das bewegliche Eigentum, das Geld). Es gibt unzählige Fakten, die das beweisen: die Existenz der Handelsstadt Piräus, unweit des Stadtstaates Athen, ebenso wie die wiederholten vergeblichen Verordnungen, die das Feilhalten von Waren auf der Agora, dem freien Platz, dem Platz für politische Versammlungen, untersagten. Wenn Christus die Händler aus dem Tempel vertreibt, so treffen wir auf das gleiche Verbot, den gleichen Sinngehalt. In China, in Japan gehört der Händler lange Zeit einer niederen Bürgerschicht an, die in ein »besonderes« Viertel verwiesen wurde (Heterotopie). Im Grunde gelingt es der Ware, dem Markt und dem Händler erst im europäischen Abendland, gegen Ende des Mittelalters, siegreich in die Stadt einzudringen. Man könnte sich vorstellen, daß der halb kriegerische, halb plündernde Hausierer sich bewußt der befestigten Reste einstiger (römischer) Städte bemächtigte, um die Grundherren zu bekämpfen. Bei dieser Hypothese würde die erneuerte politische Stadt den Rahmen für eine Aktion abgegeben haben, die sie selbst umformen sollte. Im Verlauf dieses (Klassen-)Kampfes gegen die Grundherren, die das Land besaßen und beherrschten, eines Kampfes also, der im Abendland unerhört fruchtbar war und eine Geschichte, wenn nicht die Geschichte überhaupt, schuf, wird der Markt zum Mittelpunkt. Er tritt an die Stelle des Versammlungsortes (der Agora, des Forums), ersetzt ihn. Um den Markt, der zum wesentlichen Teil geworden ist, gruppieren sich Kirche und Rathaus (das von einer Kaufmannsoligarchie besetzt ist) mit Bergfried oder Kampanile, den Symbolen der Freiheit. Man beachte, daß die Architektur sich den neuen Stadtbegriff zu eigen macht und ihn übersetzt. Das Stadtgelände wird zum Begegnungsort von Dingen und Menschen, zum Umtauschplatz. Es schmückt sich mit den Zeichen der errungenen Freiheit, anscheinend mit der Freiheit schlechthin. Ein großartiger und lächerlicher Kampf. In diesem Sinn ist die Untersuchung der »bastides« (befestigte mittelalterliche Städte, die auf Befehl der französischen Könige gegründet wurden) im Südwesten Frankreichs von Interesse. In diesen ersten Städten, die um den Marktplatz erbaut wurden, mag man ein Symbol erblicken. Ironie der Geschichte. Sobald die Herrschaft der Ware mit ihrer Logik, ihrer Ideologie, ihrer Sprache und ihren Menschen, anhebt, wird die Ware zum Fetisch. Im 14. Jahrhundert glaubt man, es genüge, nur einen Markt zu gründen, Läden und Bogengänge um einen zentral gelegenen Platz zu erbauen, und Händler und Käufer würden herbeiströmen. So gründet man (Grundherren und Bürger) Handelsstädte in nahezu wüsten Gebieten ohne Ackerbau, wo noch wandernde Halbnomaden ihre Herden treiben. Die Städte im Südwesten Frankreichs tragen zwar klingende Namen, aber sie sind Fehlgründungen. Wie dem auch sei, auf die politische Stadt folgt die Handelsstadt. Um diese Zeit (im Abendland etwa im 14. Jahrhundert) wird der Handel zu einer städtischen Funktion; auf Grund der Funktion entsteht eine Form (oder entstehen Formen: baulicher und/oder städtebaulicher Art). Somit erhält die Stadtanlage eine neue Struktur. Die Umwandlungen von Paris bieten ein deutliches Bild der vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen den drei Aspekten und den drei Hauptkonzepten: Funktion, Form, Struktur. Flecken und Vorstädte, die anfänglich Handelsplätze und handwerkliche Gemeinwesen waren: Beaubourg, Saint-Antoine, Saint-Honoré, werden zu Mittelpunkten, die der im eigentlichen Sinn politischen Gewalt (den Institutionen) Einfluß, Ansehen und Raum streitig machen, sie zu Kompromissen zwingen und mit ihr gemeinsam eine machtvolle Stadteinheit schaffen.

      Zu einem bestimmten Zeitpunkt tritt im europäischen Abendland ein »Ereignis« ein, das bei aller ungeheuren Tragweite dennoch verborgen und nahezu unbemerkt bleibt. Innerhalb der gesamten sozialen Ordnung gewinnt die Stadt dermaßen an Gewicht, daß eben diese Ordnung aus den Fugen gerät. Immer noch maß man bei der Stadt-Land-Beziehung letzterem die größere Bedeutung zu: dem Land mit seinem Reichtum an Grundbesitz, den Bodenerzeugnissen, den bodenständigen Menschen (Lehensleute oder Träger von Adelstiteln). Immer noch wurde die Stadt in ihrer Beziehung zum Land als Fremdkörper angesehen, was durch die Wälle wie durch die einen Übergang bildenden Vororte zum Ausdruck kam. Irgendwann jedoch verkehren sich die vielschichtigen Beziehungen ins Gegenteil, die Situation kehrt sich um. Auf der Achse muß der bedeutsame Moment dieser Rückkehr, der Umkehrung, der Heterotopie angezeigt werden. Von jetzt an erscheint die Stadt weder sich noch der Umwelt als städtische Insel in einem Ozean aus Land; verglichen mit der dörflichen oder ländlichen Natur erscheint sie sich nicht mehr als etwas Paradoxes, als Ungeheuer, Himmel oder Hölle. Sie geht in Bewußtsein und Wissen als gleichwertiges Element des Gegensatzes »Stadt – Land« ein. Das Land? Es ist nun nichts – oder nichts mehr – als die »Umgebung« der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze. Der Dorfbewohner? Er hört in seinen eigenen Augen auf, für den Grundherrn zu arbeiten. Er produziert für die Stadt, für den städtischen Markt. Wenn er auch weiß, daß der Korn- und der Holzhändler ihn ausbeuten, so findet er doch dort, auf dem Markt, den Weg in die Freiheit.

      Was geht nun zu diesem kritischen Zeitpunkt vor sich? Der denkende Mensch sieht sich nicht mehr als Teil der Natur, einer düsteren Welt, geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. Zwischen ihm und der Natur, zwischen seinem Zentrum und Mittelpunkt (dem des Denkens, des Seins) und der Welt steht nun ein wichtiger Vermittler: die Wirklichkeit der Stadt. Von diesem Augenblick an sind Gesellschaft und Land nicht mehr eins. Auch politische Stadt und Gesellschaft bilden keine Einheit mehr. Der Staat wächst über sie hinaus, nimmt in seiner Hegemonie von ihnen Besitz und nützt die Rivalität beider aus. Dennoch erkennt der Mensch der damaligen Zeit die sich ankündigende Majestät nicht. Die VERNUNFT, wer wird sie für sich in Anspruch nehmen dürfen? Das Königtum? Der Herr des Himmels? Das Individuum? Was sich wirklich wandelt, das ist – nach dem Niedergang Athens und Roms, nachdem deren wichtigste Werke, die Logik und das Recht, in Nacht versanken – die Vernunft der politischen Stadt. Eine Wiedergeburt des Logos findet statt, aber man schreibt sie nicht dem Wiedererstehen des Stadtwesens zu, sondern einer transzendenten Ursache. Der Rationalismus, der seinen Höhepunkt mit Descartes erreicht, begleitet diese Umkehrung der Dinge, bei der das Städtische dem Dörflich-Ländlichen den Rang abläuft. Aber die Stadt erkennt ihre neue Vorrangstellung nicht. Dennoch entsteht um diese Zeit das Bild der Stadt. Schon besaß die Stadt die Schreibkunst mit ihren Geheimnissen und ihrer Macht. Schon stellte


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