Wenn Du gehen musst .... Doris Kändler
als ich. Dennoch griff ICH niemals zu Drogen.
Prinzipiell wäre ich viel eher dafür prädestiniert gewesen, den Süchten zu verfallen, als sie. Doch ich hielt mich davon fern. Ich konnte dieses Gesülze über die schreckliche Vergangenheit und die Opferhaltung der Süchtigen nicht mehr ertragen. Wer interessierte sich denn mal für die Sorgen, die wir Angehörigen hatten?
Ich war es so leid, dass ich ihm eine Nachricht auf seiner Pinnwand hinterließ.
Ich kann den genauen Wortlaut leider nicht mehr wiedergeben, aber sinngemäß schrieb ich folgendes...
Ich schrieb, dass ich mich für die Beiden sicherlich sehr freuen würde, er sollte aber verdammt noch mal aufhören, mich mit solch einem Müll vollzutexten. Er solle sich mal Gedanken darüber machen, wie sehr ihre Kinder die Mutter vermissen würden und gefälligst aufhören in Selbstmitleid zu baden. Ich schrieb ihm, dass sie kein schreckliches Leben hinter sich hatte und er aufhören sollte, mit solchen Sätzen die Schuld bei den Anderen zu suchen. Er sollte sich bewusstwerden, dass wir alle unser Päckchen zu tragen hätten, und nicht wie er oder sie drogensüchtig geworden sind. Die Beiden sollten endlich ihr Leben in den Griff bekommen und sich nicht ständig das Hirn zu nebeln.
In meinem letzten Satz kündigte ich den beiden die Freundschaft und löschte sie aus meiner Freundesliste.
Ich bereute sehr schnell, was ich geschrieben hatte, konnte aber damals nicht anders. Sie ließ sich ja auf kein Gespräch mit mir wirklich ein.
Viel zu oft hatte ich sie in der Vergangenheit aus einer furchtbaren Situation herausgeholt, wenn sie wegen der Drogen alles um sich herum vergaß. Oft genug brach sie alle Kontakte ab, um nicht zu zeigen, was sie war. Sie war DROGENSÜCHTIG!
Ich litt wahnsinnig darunter, mir blieb jedoch keine andere Wahl. Ich wäre wieder viel zu tief in diesen Sumpf hineingezogen worden, dabei hatte ich selbst genug Probleme, die meine volle Aufmerksamkeit brauchten.
Die Kinder litten wohl am meisten unter der Situation, was mich damals zutiefst erschütterte. Die Tochter ist 11 Jahre älter als der kleine Sohn. Sie musste in der vergangenen Zeit ständig nach dem Kleinen sehen, weil die Mutter einfach nicht mehr dazu in der Lage war. Und nun musste sie ihre Mutter vermissen, weil sie sich für ein anderes Leben entschieden hatte, was mich tiefer denn je traf. Das war mir einfach zu viel.
Einige Zeit später erhielt ich eine Nachricht von ihrer Tochter. Sie teilte mir über diese Internet-Community mit, ihre Mutter würde im Sterben liegen. Ihre Nachricht an mich war bitterböse, und sie beschuldigte mich, ihrer sterbenden Mutter den Rücken gekehrt zu haben.
Sie schrieb Dinge, die meiner Ansicht nach, nicht von einem damals 14 Jahre alten Mädchen kommen konnten. Ich dachte, Sandy selbst würde mir schreiben, und hätte nur nicht den Mut, auch dazu zu stehen. Also antwortete ich, in dem tiefen Glauben, ihr selbst zu schreiben. Doch ich sollte mich irren.
Nachdem ich erneut eine Antwort erhielt, die nicht weniger böse war als die vorherige, rief ich Sandys Bruder an. Dieser bestätigte mir, dass es sich bei der Schreibenden tatsächlich um seine Nichte gehandelt haben musste, da seine Schwester bereits auf der Palliativstation lag. Er bestätigte das Unfassbare. Meine beste Freundin hatte unheilbaren Krebs, und würde daran, in nicht zu weiter Ferne, versterben.
Ich brach in Tränen aus, denn mir wurde bewusst, was nun geschehen würde.
Es mag sich vielleicht eigenartig anhören, aber ich empfand sie damals als sehr egoistisch. Wir hatten so viel miteinander durchgemacht, und nach all dem, gab sie mir noch nicht mal von sich aus die Chance, mich von ihr zu verabschieden, um sie loslassen zu können. Als ich von der Tatsache erfuhr, brach für mich eine Welt zusammen. Und obwohl ich ihr Monate zuvor mitgeteilt hatte, dass in meinem Leben kein Platz mehr für sie sei, weil ich mich und meine Kinder vor dem Drogensumpf schützen wollte, hatte ich nun nichts anderes mehr im Sinn, als sie zu sehen.
Er gab mir ihre Zimmerdurchwahl und sagte mir, sie würde sich sicher freuen, wenn ich sie anrufen würde. Ich solle ihr keine Vorwürfe machen, denn es würde sowieso nichts bringen.
Vorwürfe??? Ich wollte ihr keine Vorwürfe machen. Ich wollte sie sehen und mich verabschieden dürfen... Also rief ich sie an.
Nachdem sie den Hörer abgenommen hatte, ertönte dieses vertraute, unnachahmliche Räuspern, mit dem sie in all den Jahren der Freundschaft Telefonate begann.
„Hallo?“ Ihre Stimme klang leise und schwach.
Ich musste ein tiefes Schluchzen unterdrücken.
„Ich bin es“, gab ich zur Antwort. Sie wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war und freute sich wahnsinnig über meinen Anruf. Die erste Hürde war überwunden. Der Stein auf meiner Brust wurde kleiner.
Kein böses Wort und keine Vorwürfe kamen über meine Lippen. Ich stellte ihr nur die Frage, warum sie mich nicht informiert hatte. Sie gab mir zur Antwort, sie hätte sich nirgends gemeldet.
Es war eigenartig. Sie wollte lediglich wissen, wie es mir ging. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, an dem ich sie im Krankenhaus besuchen sollte.
Der schwerste Weg...
Leise schlich ich mich in ihr Zimmer. Ein unglaublich beklemmendes Gefühl legte sich auf meine Brust. Die Palliativstation eines Krankenhauses war mir als Begriff sehr wohl bekannt – ich bin schließlich Krankenschwester von Beruf.
Ich musste jedoch nie zuvor einen Angehörigen dort besuchen. Schon gar keine junge Frau im Alter von gerade mal 36 Jahren.
Ich hatte versucht mich seelisch und moralisch auf das, was nun kommen würde, vorzubereiten. Durch unseren Streit hatte ich sie schließlich einige Monate nicht mehr gesehen.
Als ich sie nun erblickte, war es vorbei mit meiner Stärke. Ein Schatten dessen, was ich zuletzt gesehen hatte, blickte mich mit großen Augen an.
Die blauen Augen, die in dem früher eher rundlichen Gesicht nie direkt aufgefallen waren, erschienen mir nun, als wären sie der Mittelpunkt ihres Gesichtes. Die schwarzen Ränder darunter verrieten nichts Gutes. Ihre Zähne blitzten auf. Zähne, die früher hinter kräftigen Lippen verborgen lagen. Ihr Kopf an sich wirkte sehr verändert. Ihr langes, gelocktes, braunes Haar war nun spröde und hing leblos an ihr herunter.
Sie hatte immer mal wieder stark ab – oder zugenommen, aber niemals bot sich mir ein solches Bild. Ihr Körper lag für mich noch nicht sichtbar unter der Bettdecke verborgen. Als sie sich aufrichten wollte, um mich zu begrüßen, bat ich sie, liegen zu bleiben – wohl auch, weil ich noch nicht bereit war, den Rest dieses geschundenen Körpers anzusehen.
Die Frage, „wie geht es dir“ ersparte ich mir, denn sie beantwortete sich in Anbetracht der Tatsache, dass sie hier gegen den Tod kämpfte, von selbst.
„Ich habe dir, wie du es gewünscht hast, Cola mitgebracht“, sagte ich sehr leise.
Ihre Freude über diese zwei Flaschen war nicht zu übersehen. Es ist doch eigenartig, wie sehr sich ein Mensch über ein so, nun ja, nennen wir es mal... banales Mitbringsel, freuen kann.
Sicher, ich konnte verstehen, dass sie das Krankenhauswasser nicht mehr sehen und schon gar nicht mehr trinken wollte. Den Tee hatte sie nun auch schon in allen Variationen ausprobiert und mochte ihn nicht mehr. Dennoch fragte ich mich, ob Cola wirklich so gut für sie war. Sie hatte mir am Telefon schon mehrfach erzählt, dass sie aufgrund des Tumors gar nichts mehr bei sich behalten konnte. Und dann Cola? Doch ihre Antwort klang einleuchtend.
„Wenn ich schon dauernd alles wieder erbrechen muss, kann es auch ruhig Cola sein.“
Ihr Mittagessen wollte sie eigentlich unangetastet zurückgeben. Erst als ich aufmunternd auf sie einwirkte, nahm sie einen Bissen Brokkoli und probierte etwas Fleisch. Sie schob beides sofort wieder von sich weg.
Auch hier sagte sie nur nüchtern: „Ich warte bis mein Bruder mir endlich mein Döner mitbringt. Dann esse ich das genüsslich, um es 5 Minuten später in die Toilette zu bringen.“
Sie lachte, doch ich konnte mich ihrer