Wenn Du gehen musst .... Doris Kändler
Ich wartete gespannt ab und setzte alles daran, dass sie meine geheimen Pläne nicht durchschauen würde. Ich sah krampfhaft in eine andere Richtung, jedoch immer so, dass ich sie niemals aus dem Augenwinkel verlor.
Irgendwann war es soweit. Sie war völlig entspannt und zelebrierte das Essen förmlich. Die Anwesenheit meiner Person schien sie absolut vergessen zu haben.
Also nahm ich mir eine ganze Gabel voll mit den Leckereien des Tellers, drehte sie vor meinem Gesicht herum und...
Feuer!!!
Der hatte gesessen. Die komplette Gabelfüllung hing mitten in ihrem Gesicht. Ich konnte kaum noch gerade sitzen vor Lachen. Sandy nahm ebenfalls die Gabel und traf mich mitten im Gesicht. Nun lachte auch sie, was jedoch schnell in Entsetzen überging, denn einige Spritzer der Soßen-Rotkohl-Mischung waren ausgebrochen und hatten sich in der Küche verteilt. Sogar die Tapete war nicht verschont geblieben. Oh je. Wir mussten schnell handeln, denn meine Mutter war wegen unserem Gelächter schon auf dem Weg in die Küche. Herd, Spüle und Fensterbank konnten wir noch sauber machen, aber für die Tapete war es zu spät. Also stellten wir die Stühle genau davor und setzten uns vor die Flecken.
Meine Mutter ließ einen prüfenden Blick durch die Küche wandern, ärgerte sich darüber, dass wir die Ration für den nächsten Tag vollständig weggeputzt hatten und ging zurück ins Wohnzimmer.
Ob sie die Flecken in unseren Gesichtern nicht gesehen hat, kann ich bis heute nicht sagen. Ich habe sie nie danach gefragt. Eins steht allerdings fest...
Die hatten wir vergessen!
Uns fiel wahrhaftig ein dicker Stein vom Herzen, dass wir die Situation noch entschärfen konnten. Wir nahmen schnell einen mit Spülmittel getränkten Lappen und versuchten alles um die Tapete noch zu retten. Doch diese Flecken waren nicht mehr heraus zu waschen.
Damit wir keinen Ärger bekamen, beschloss ich, einfach so zu tun, als wüsste ich nicht, woher die Flecken kamen.
Nun war es schon sehr spät geworden und Sandy musste nach Hause. Die Hälfte des Weges begleitete ich sie, dann sollten sich unsere Wege trennen.
Auf dem Weg zurück nach Hause fiel mir auf, dass wir tatsächlich kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Wir hatten unendlich viel Spaß miteinander gehabt, aber eben ohne viele Worte.
Ich hätte mich sehr gerne wieder mit ihr getroffen, doch damals wäre ich nicht in der Lage gewesen, einfach klingeln zu gehen. Ich wusste ja nicht, wie sie am nächsten Tag zu mir stehen würde.
Würde sie mich dann vielleicht wieder hassen? Würde sie mir eventuell aus der 2. Etage von oben aus dem Fenster auf den Kopf spucken? Vielleicht würde sie mich auch fragen, was ich denn von ihr wollte! Aber was wäre, wenn sie ebenfalls so dachte?
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Eine Minute später stand ich im Flur unseres Hauses und beschloss, meine Mutter um Rat zu fragen.
„Kind, bist du das?“, kam es aus dem Wohnzimmer.
„Ja“, gab ich zur Antwort und öffnete die Türe zum Wohnzimmer, in dem meine Mutter den Telefonhörer in der Hand hielt.
„Hier ist ein Gespräch für dich. Es ist Sandy!“
Oh man, war ich froh. Damit hatten sich all meine Fragen und Ängste erledigt…
Zurück zur Realität...
Ich war sehr traurig, als ich in Gedanken an die alte Zeit versunken war. Ich hatte sie genau vor Augen. Meine Ängste vor dem Neuen. Die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten. Die tiefe und innige Freundschaft, die uns verband. Doch auch die ständigen Trennungen wegen der Drogen.
Oft musste ich mit ansehen, wie sie sich immer mehr von mir entfernte und sich lieber an die neu geknüpften Freundschaften klammerte. All diese Menschen hatten kein ernsthaftes Interesse an ihr. Mir war klar, warum diese Leute ihre Nähe suchten. Sandy wollte das nicht einsehen. Meiner Meinung nach gingen sie alle nur zu ihr, weil Sandys Mann sie mit dem so dringend benötigten „Stoff“ versorgte. Ja, ihr Mann dealte mit allem, was man sich nur wünschte. Kokain, Speed, Heroin und Haschisch. Die Frage, ob er es besorgen konnte, stellte sich nie. Immer nur wie viel man benötigte und wann man es brauchte. Mit diesen Menschen wollte ich nun einmal einfach nichts zu tun haben.
Es war also eine schwierige Situation für mich. Nicht nur, dass ich mich hier langsam, aber sicher verabschieden musste... In aller erster Linie musste ich schließlich erst einmal wieder vernünftig zu ihr finden.
Ich dachte an ihre Tochter. Wie böse die Nachrichten waren, die ich zuletzt von der Kleinen erhalten hatte. Ich konnte nicht glauben, dass ein so junges Mädchen mir solch tiefgreifende, intelligente und dennoch sehr böse Briefe schrieb. So gerne hätte ich richtiggestellt, was zuletzt geschah, doch Sandy ließ ein Gespräch darüber nicht zu. Sie sagte lediglich: „Du musst die Kleine verstehen. Sie ist böse, weil ich sterben werde. Und sie zeigt so ihre Gefühle.“
Klar, dem konnte ich folgen. Aber ich hatte doch keine Schuld am Sterben ihrer Mutter!
Ich hatte mich bloß selbst schützen wollen und war noch dazu sehr erbost darüber, dass Sandy dem Kind von meinen Nachrichten an sie selbst und ihren neuen Lebensgefährten erzählt hatte. Doch auch darüber wollte sie nicht sprechen. Also musste ich selbst jetzt zusehen, wie ich dem Kind irgendwann einmal plausibel machen konnte, warum ich so handelte, wie ich es eben tat.
Die Kleine war mir sehr wichtig. Sie war unendlich süß und ein wirklich liebes Kind. Sie hatte einen festen Platz tief in meinem Herzen. Die Kleine war ein echtes Glückskind, denn sie entstand, als Sandys Heroinkonsum enorm hoch war. Sie hing bereits so tief drin, dass sie sich die Substanz spritzte. Dennoch kam ihre Tochter ohne Entzugserscheinungen auf die Welt.
Damals war ich so unendlich stolz auf Sandy.
Nach dem ersten Schock, dass ein neues Leben in ihrem von Drogen gezeichneten Körper heranwuchs, begriff ich, dass sie eben für genau dieses Leben den giftigen Substanzen den Rücken gekehrt hatte.
Nicht nur die Kleine hatte Sandys Leben gerettet, sondern Sandy rettete dem Ungeborenen in ihrem Körper das Leben!
Sie machte damals in der Schwangerschaft einen kalten Entzug durch. Jeder, der selbst einmal ein Suchtmittel ohne jegliche Hilfsmittel weggelassen hat, kann sich vorstellen, was das für die werdende Mutter bedeutet haben muss.
Selbst ich Moralapostel schaffte es nie, während meiner zwei Schwangerschaften ganz mit dem Rauchen aufzuhören. Ich habe immer geraucht, zwar viel weniger und leichtere Zigaretten, aber ich habe geraucht. Ich war nie so konsequent, wie Sandy. Deshalb habe ich bis heute, auch immer ein schlechtes Gewissen, meinen Kindern gegenüber.
Ein Grund mehr, vor ihr meinen Hut zu ziehen.
Nun war die Kleine ein Teenager, der sich von der Mutter verabschieden musste. Von einer Mutter, die sie natürlich über alles liebte. Von einer Frau, die es nie lange schaffte, clean zu bleiben. Von der Frau, die auf der einen Seite versuchte, ein Vorbild zu sein und auf der anderen Seite immer wieder in den Abgrund der Drogenhölle abrutschte. Stets mit der Hoffnung, dass der nächste Entzug der Letzte sein würde.
Niemand hätte jemals wirklich geglaubt, dass der Letzte ihr Tod sein würde!
Ich war mit Sicherheit niemals die Bezugsperson Nummer eins für die Kleine, was alleine daran lag, dass wir unterschiedliche Leben führten. Sandys neue Freunde waren mir suspekt, da sie ebenfalls den verschiedensten Abhängigkeiten verfallen waren. Ich zog mich also mehr und mehr zurück.
Diese Menschen verstanden Sandy natürlich, weshalb sie mehr den Kontakt in deren Richtung suchte. Somit hatte auch ihre Tochter überwiegend Kontakt zu dem neuen Freundeskreis.
Natürlich verstand ich sie auch, dass sie diese Kontakte mehr pflegte, als den Kontakt zu mir, denn ich versuchte ihr ständig ins Gewissen zu reden. Ich sprach mit Engelszungen auf sie ein, mit all dem Müll aufzuhören und habe sie damit vertrieben. Auch damit musste ich fertig werden. Sie fehlte mir schon lange vorher.