Wenn Du gehen musst .... Doris Kändler

Wenn Du gehen musst ... - Doris Kändler


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den Mund zu halten. Sie nicht mehr zu kritisieren oder zu maßregeln. Doch ich hatte sie so lieb, dass diese Hürde für mich einfach zu hochgesteckt war und ich ständig in meine alten Verhaltensmuster rutschte. Eben genauso wie sie. Dabei meinte ich es immer nur gut und dachte an sie und ihre kleine Tochter.

      Obwohl sich unsere Lebensvorstellungen grundsätzlich unterschieden, hielten wir, und wenn auch oft nur sporadisch, Kontakt zueinander.

      Wenn es einem von uns beiden schlecht ging, wusste die Andere immer Bescheid. Uns unterschied in all den Jahren nur eins:

      Wenn es Sandy schlecht ging, dann nahm sie von mir Abstand. Meldete sich gar nicht mehr. Ging nicht mehr an ihr Telefon, es sei denn, am anderen Ende war jemand, der ihr das brachte, was sie so dringend brauchte. Drogen. Ich denke, sie hielt dann Abstand zu mir, weil sie sich vor mir schämte. Weil sie mir das Bild von der Frau ersparen wollte, die sie dann war. Weil sie mich so liebhatte, dass sie wusste, wie schlecht es mir bei ihrem Anblick gehen würde.

      Wenn es mir schlecht ging, suchte ich ständig Kontakt zu ihr. Dann telefonierten wir an manchen Tagen stundenlang. Es wurde alles bis ins kleinste Detail ausdiskutiert. Ich rannte ihr förmlich die Bude ein. Wohl auch nur, weil sie die einzige Person in meinem Leben war, der ich meine intimsten Gedanken und Geheimnisse anvertraute. Sie war DIE Freundin, die genau wusste, wie weich mein Kern hinter der so schrecklich harten Schale war. Sie blieb bis heute DIE Freundin, die all die dunklen Geheimnisse meines Lebens und meines Denkens kennt. Und ich weiß genau, dass sie niemals darüber gesprochen hat.

      Ich fragte mich, welchen Stellenwert ich überhaupt noch in ihrem Leben hatte. Ich habe sie nie danach gefragt, denn dazu fehlte mir der Mut.

      Sie riss mich aus meinen Gedanken. „Worüber denkst du nach?“

      Mir war nicht bewusst, dass ich mit tränengefüllten Augen starr aus dem Fenster sah.

      „Du bist gut“, gab ich zur Antwort. „Worüber sollte ich schon groß nachdenken? Natürlich denke ich über uns nach. Über unsere Vergangenheit.“

      Sie lächelte. Ich sollte ihr unbedingt aus der Gegenwart erzählen. Mit kurzen und knappen Sätzen gab ich ihr, wonach sie sich sehnte. Sie spürte jedoch genau, dass ich viel lieber über uns und unsere Vergangenheit sprechen wollte. Ohne, dass ich es aussprechen musste, waren wir in Gedanken wieder auf einer Zeitreise.

      „Hast du eigentlich noch die Aufzeichnungen über deine Gedichte und Gedanken“, fragte sie mich aus heiterem Himmel. Natürlich hatte ich die Aufzeichnungen noch. Ich hatte den sorgfältig angelegten Ordner sogar mit ins Krankenhaus gebracht, damit wir darin stöbern konnten, sollten wir Lust und Zeit dazu haben...

      Schon als kleines Mädchen, ziemlich genau seit dem Moment, als ich das Schreiben erlernte, brachte ich alles zu Papier, was mir wichtig war.

      Briefe an meine Mutter, wenn ich meiner Meinung nach, ungerecht behandelt worden war.

      Briefe mit selbstgemalten Bildern zu Weihnachten und für die Geburtstage.

      Liebesbriefe an meinen 10 Jahre älteren Onkel, den ich in der Grundschulzeit vergötterte.

      Kurzgeschichten aller Arten...

      Im Alter von 12 Jahren begann ich, meine intimsten Wünsche und Geheimnisse in Gedichtform aufzuschreiben

      All meine Gedanken, Briefe an Jungs oder an Sandy, und auch Gedichte wurden sorgfältig in diesen Ordner geheftet, der bis heute der einzige Ordner geblieben ist, den ich so pedantisch und sorgfältig behandele, als wäre es ein rohes Ei.

      Jeden Tag, an dem ich mir ein wenig Zeit abzwacken konnte, fügte ich etwas Neues hinzu. Oft waren es sehr traurige Gedichte, allesamt in der Trennungsphase meiner Eltern entstanden. Einige von Ihnen waren Liebesgedichte und andere wiederum spiegelten das Innere meiner Teenagerseele wider.

      Immer wenn Sandy kam, packte sie sich den Ordner und las darin. Sie war die einzige Person, der ich mein Allerheiligstes anvertraute.

      Oft sprachen wir stundenlang am Telefon über die neuesten Eintragungen. Sie sprach kein Wort, sondern lauschte lediglich meinen Vorlesungen.

      Daraus war im Laufe der Jahre so eine Art Ritual entstanden. Fast schon automatisch fragte sie bei jedem Treffen oder Telefonkontakt, ob ich noch mal etwas Neues geschrieben hätte. Ihre Augen glänzten, wenn sie sich zurücklehnte, um meinen Worten zu lauschen.

      Sie war diejenige, die mich immer wieder dazu ermunterte, weiter zu schreiben. Und ich schrieb...

      Leider war sie zu schwach, um darin zu blättern.

      „Sei mir nicht böse“, sagte sie. „Ich bin total erschöpft. Ich habe dazu keine Kraft mehr. Ich würde jetzt gerne nur noch eine rauchen und dann wieder in mein Bett gehen.“

      Sie brauchte nicht viel zu sagen. Man sah es auch so. Also saßen wir da und rauchten noch eine Zigarette. Plötzlich sagte sie: „Gehst Du noch tanzen?“

      Diese Frage löste einen Stich in meinem Herzen aus.

      „Nein“, gab ich zur Antwort. „Dazu habe ich keine Lust mehr. Mir ist in den vergangenen Jahren einfach alles zu viel geworden.“ Was für eine Aussage. Ich kam mir albern vor. Da saß ich einer jungen Frau gegenüber, die bald sterben würde, und ich sprach davon, dass mir alles zu viel sei.

      „Ich würde so gerne noch einmal tanzen gehen“, sagte sie. „Aber ich kann nicht mehr lange genug auf meinen Beinen stehen.“ Wehmütig schaute sie aus dem Fenster.

      Da kam mir eine Idee.

      „Wenn du das gerne tun würdest, dann komme ich dich holen und wir nehmen einfach einen Rollstuhl mit. Dann kannst du dich hinsetzen, wenn du das möchtest. Du musst doch nicht darauf verzichten.“

      „Nein“, sagte sie. „Das ist nicht dasselbe. Außerdem kann ich nicht lange aus dem Bett bleiben. Ich bin so schwach.“

      In diesem Moment sah man ihr an, dass sie solchen Ausflügen hinterher trauerte. Bis dahin wirkte sie sehr gefasst. Man hatte tatsächlich das Gefühl, sie wäre froh, wenn sie es endlich hinter sich hätte. Und in diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen, dass sie gerne weiterleben würde.

      Und schon wieder fing ich an zu heulen. Ich hatte mich so sehr darauf konzentriert hinzunehmen was unumgänglich war, dass ich aus den Augen verloren hatte, was nun alles nicht mehr möglich sein würde. Nie mehr würden wir zusammen die Tanzfläche unsicher machen. Das konnten wir in den Jahren, seit sie mit dem Vater ihrer Kinder zusammen war zwar auch nicht, aber wir hätten es gekonnt, hätten wir uns gegen ihn durchgesetzt. Er war strikt dagegen, dass sie alleine wegging. Wir fanden uns einfach irgendwann damit ab.

      Doch nun war es vorbei. Wir konnten noch nicht einmal mehr davon träumen.

      Langsam erhob sie sich von ihrem Sitzplatz. Die Zigarette war ausgeraucht und sie wollte nur noch ins Bett. Ich ging noch einmal mit in ihr Zimmer. Ihr Bett stand direkt am Fenster. Das Bett daneben wurde von einer etwas älteren, aber nicht alten Frau belegt. Die Dame trug ein Tuch auf dem offensichtlich kahlen Kopf. Auch ihr sah man das Herannahen des Todes an. Sie hatte Kopfhörer auf, weshalb wir noch ein wenig miteinander sprechen konnten.

      Das Zimmer war sehr eng. Ich saß ziemlich eingeengt am Fußende von Sandys Bett an einem kleinen Tisch, der vollgestellt war, bis nichts mehr ging. Wir sprachen noch den ein oder anderen Satz miteinander, bis ich erkennen musste, dass sie vor lauter Erschöpfung noch nicht mal mehr sprechen konnte. Sie schloss ihre Augen, während ihr Mund offenblieb, weil selbst die Wangenmuskulatur erschöpft war. Ihr mageres Gesicht war grau gefärbt. Leise nahm ich die Tasche, in der sich der Lyrische Ordner befand, und bewegte mich auf ihr Bett zu. Vorsichtig berührte ich ihren Arm. Sandy zuckte zusammen. Ich wollte sie nicht erschrecken, musste ihr jedoch mitteilen, dass ich mich nun zurückzog. Ihre Augen blieben geschlossen. Sie nahm meine Hand, hielt sie mit ihren dürren Fingern fest und fragte: „Wir telefonieren,


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