Wenn Du gehen musst .... Doris Kändler
Internet und suchte nach den heiß begehrten, heilenden Olivenblättern. Ich fand jedoch immer nur die Auskunft darüber, dass man ihnen eben heilende Kräfte nachsagt. Eine Anleitung wie man das Präparat einsetzt, eine detaillierte Auflistung über die Wirkung dieser Pflanze oder Beschaffungsmöglichkeiten waren jedoch nirgends zu finden.
Trotzdem rief ich sie später an und erzählte ihr von dem Gespräch mit dem Gastronom.
Am anderen Ende der Leitung war es erst einmal still.
Dann sagte sie: „Dodi, du glaubst doch nicht allen Ernstes an diesen Humbug? Also wenn es auch nur die geringste Chance geben würde, hätten die Ärzte mir das sicherlich gesagt. Außerdem würde ich das Zeug sowieso nicht drin behalten. Ich erbreche ALLES. Damit würde es also sowieso nicht wirken. ES GIBT KEINE HOFFNUNG. AKZEPTIERE DAS BITTE!“
Dann war das Thema für sie durch.
Nun saß ich da, wurde am Telefon von ihr abgewürgt, und musste alleine zusehen, wie ich damit umging. Das war sehr typisch für sie. Sie konnte keine Prioritäten setzen. Aber hierbei ging es doch um ihr Leben! Wollte sie also doch lieber sterben? Was wäre, wenn ihr die Blätter helfen würden. Ich beschloss, die Blätter trotzdem zu bestellen. Also suchte ich im Internet weiter nach den Olivenblättern. Ich fand lediglich die Homepage einer Firma, bei der man diese Blätter in ihrer ursprünglichen Art und unbehandelt bestellen konnte. Doch als wäre es verhext, existierte die Firma nicht mehr. Ich war ziemlich verzweifelt.
All meine hilflosen Suchen und Bemühungen, alternative Heilmethoden zu finden, nahmen ein jähes Ende, als ich bemerkte, dass ich bereits auf den Seiten von Wunderheilern gelandet war. Da angekommen musste ich mir selbst eingestehen, dass ich auf einem völlig verrückten Trip unterwegs war. Und selbst wenn ich tatsächlich auch so was in Betracht zog, hieß das noch lange nicht, dass Sandy sich genauso darauf einlassen würde.
Ich wurde sehr schnell abgelenkt, da ich all meinen fragenden Freunden und Verwandten mitteilen musste, wie es um sie stand. In den nächsten Tagen diskutierte ich unheimlich viel mit meinen engsten Vertrauten über ihren Zustand. Sicher, wir alle glaubten, dass ihr Lebenswandel sie so krank gemacht hatte. Doch alle Fragen nach „hätte, wäre, wenn...“ nutzte nichts. So oder so, es war und blieb schmerzhaft.
Diese ganze Sache nahm einen solchen Raum in meinem Leben ein, dass mein Freund irgendwann ein Gespräch suchte. Ihm war wichtig, dass ich mich dafür nicht völlig aufgab oder sogar selbst verlor. Klar. Ich konnte ihn verstehen. Er hatte schließlich nur die Jahre erlebt, in denen wir weniger gemeinsam unternahmen.
Ihm klangen meine Worte im Ohr, mit denen ich sagte, jetzt sei Feierabend. Ich würde sie nicht schon wieder retten, wo sie ihr Leben kurz vorher weggeworfen hatte.
Ich erzählte ihm, wie viel ich mit ihr durchgemacht, und wie oft ich sie aus schrecklichen Wohnungen des Milieus herausgeholt und zu ihren Eltern zurückgebracht hatte. Wie oft ich sie alleine oder mit ihrer Tochter vor ihrem Ehemann gerettet und in Obhut zu mir nach Hause geholt hatte.
Ihm vertraute ich an, wie sehr ich verachtete, dass sie in der letzten Schwangerschaft so viel Alkohol trank und unentwegt rauchte. Wie schrecklich ich fand, was sie damit dem Ungeborenen Sohn antat.
Ich sprach aus, wie furchtbar ich es empfand, dass sie ständig nur noch im Bett lag. Der Haushalt und der kleine Sohn wurden meistens von der Tochter oder dem Ehemann versorgt.
Er verstand ja auch nicht, dass dies lediglich Worte der harten Schale waren. Der weiche Kern in mir drin dachte ja ganz anders. Natürlich fand ich all das furchtbar, aber sie tat mir auch unendlich leid. Ich wusste ja nicht, wie ich ihr hätte helfen können. Schließlich war ich weder Therapeutin noch Sozialpädagogin. Ich war einfach nur eine leidende Freundin. Eine Angehörige einer Suchtkranken in weitester Form.
Nun sollte er tatsächlich verstehen, dass ich so litt?
Doch er hielt sich zurück und verstand offensichtlich, dass es besser war, mich meinen Schmerz einfach ausleben zu lassen. Wir führten gute Gespräche, in denen ich meine Vergangenheit mit ihr aufarbeiten konnte. Er interessierte sich sehr dafür, wie ihr Leben war, bevor die Drogen alles veränderten. Also erzählte ich!
Meine beste Freundin...
Nach diesem ersten Oktoberabend, als wir endlich Freundinnen waren, gab es keine Sekunde, die wir ohne die Andere verstreichen ließen. Wenn die Tage zu Ende gingen, verschanzten wir uns Zuhause am Telefon. Jeden Abend!
Von da an erzählten wir uns alles.
Manchmal machten wir unsere Eltern damit wahnsinnig. Die Leitungen blieben besetzt und alles andere war absolut unwichtig. Was sollte denn auch wichtiger sein als wir?
Nichts und Niemand!
Anfangs besuchte ich noch eine andere Schule, weshalb uns lediglich die Nachmittage blieben. Diese kosteten wir dann natürlich auch wirklich aus. Wenn ich nicht gerade am Pferdestall war, dann war ich mit ihr unterwegs.
Den ganzen lieben, langen Tag zogen wir durch unseren Ort. Jeder kannte uns. Und wer uns bis dahin nur als Einzelperson kannte, musste ziemlich rasch erkennen, dass es uns beide nur noch im Doppelpack gab.
Kälte und Müdigkeit waren für uns beide ein Fremdwort. Allerdings muss ich zugeben, dass wir alleine auf Grund der Tatsache, in so zartem Alter bereits Nikotin abhängig zu sein, draußen verharren mussten. Wir durften es ja nun auch beide noch nicht. Sandy war gerade 12 Jahre alt geworden und ich süße 11.
An meinem 11.Geburtstag, hatte ich noch nicht einmal die Ausdauer, zu Hause darauf zu warten, bis Sandy endlich zu mir kommen würde. Also machte ich mich auf den Weg zu ihr.
Dort angekommen, wartete die aufgeregte Mutter bereits mit einem Geschenk für mich in der Hand. Sie hatte mir ein Paar Norwegersocken gekauft. Wem diese Socken noch in Erinnerung geblieben sind, der weiß, wie sehr ich mich darüber gefreut habe. Überhaupt war ich sehr erstaunt, dass ich von der Mutter meiner Freundin ein Geschenk bekam. Das kannte ich nicht. Ich war gerührt.
Es gab verschiedene Modelle. Ich bekam sie in grau. Es waren jedoch nicht die Socken aus dem harten, kratzenden Material, sondern die weichen, flauschigen.
Und man kann mir glauben... Ich habe sie geliebt.
Ganz ehrlich... Ich habe sie bis zum Jahr 2005 getragen, dann allerdings musste ich sie leider wegwerfen, da sie, nach genau 20 Jahren Tragedauer, mittlerweile mehr der Form eines Schweizer Käses glichen als wärmenden Socken! Ich war unendlich traurig, dass ich mich nun endgültig davon trennen musste.
Ihre Mutter war sichtlich gerührt, dass ich mich so sehr über dieses doch eher relativ kleine Geschenk freute. Sandy konnte es kaum erwarten mich auszuhorchen über meine Geschenke. Doch so viele waren es gar nicht. Bei uns in der Familie wurde kein großer Aufstand geprobt. Es gab eigentlich recht übersichtliche Geschenke, da meine Eltern schließlich drei Kinder zu beschenken hatten. Ich bekam die Hose, die ich mir schon länger gewünscht hatte, und noch eine Kleinigkeit dazu.
Am nächsten Tag sollte ich herausfinden, was für positive Seiten es haben kann, wenn man sozusagen als Einzelkind aufwächst. Sandys Bruder ist 11 Jahre älter als sie, weshalb er schon mit seiner Frau zusammenlebte. Sie wurde also stets behandelt wie ein Einzelkind. Genauso fiel natürlich auch ihr Geburtstag an diesem Tag aus. Ich erinnere mich genau. Sie bekam eine Couch für ihr Zimmer, eine Kette, eine tolle modische Hose, wunderbare Unterwäsche und die Schallplatten, die sie sich wünschte.
Tatsächlich fragte ich mich, was die Eltern ihr denn zu Weihnachten schenken würden.
Ich freute mich für sie mit, allerdings muss ich ehrlich gestehen, dass ich ein wenig neidisch auf sie war.
Weihnachten sah es ähnlich aus. Ich erzählte ihr stolz von einem Radiowecker und einem Schminkpinsel-Set, während sie mir die Liste ihrer Geschenke runterleierte, mit einer Art Langeweile in der Stimme. Diese Liste nahm unglaubliche 5 Minuten unseres Telefonats in Anspruch. Meine Enttäuschung musste ich in den Hintergrund stellen, denn ich wusste genau, dass unsere finanziellen Verhältnisse anders waren als die von Sandys Eltern. Wir besaßen im Gegensatz zu ihnen ein eigenes Haus