Freifahrtschein. Mila Roth

Freifahrtschein - Mila Roth


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Widerstands und reichte ihr den kleinen Finger, musste jedoch auf der Hut sein, dass sie nicht gleich wieder nach der ganzen Hand griff – und nach dem Rest von ihm.

      Während er noch überlegte, wie er den Samstagabend viel lieber verbringen würde, nahm er seine schwarze Lederjacke von der Stuhllehne und warf sie sich über. Auf dem Weg zum Aufzug entfernte er die in Plastik gehüllte ID-Karte, die er am Kragen seines Hemdes befestigt hatte. Er steckte sie in die Innentasche seines Jacketts, hielt jedoch inne, als sein Handy klingelte.

      Als er den Namen auf dem Display des Smartphones las, runzelte er überrascht die Stirn. Mit der freien Hand drückte er den Knopf, um den Aufzug anzufordern. »Neumann?«, meldete er sich.

      »Oh, gut, dass ich Sie erreiche!«, rief Janna Berg am anderen Ende der Leitung. Markus hatte den Eindruck, dass sie unter Stress stand. Im Hintergrund hörte er scheppernde Technomusik, Bässe und weitere Jahrmarktgeräusche. »Sie müssen mir helfen. Können Sie herkommen? Sie sind hier und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

      Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich eine Spur. »Frau Berg? Immer mit der Ruhe. Wohin soll ich kommen und wer ist dort?«

      »Ich bin auf Pützchens Markt. Die zwei ... dieses Pärchen aus Herrn Wolhagens Wohnung – wissen Sie noch? Die sind hier. Ich habe sie hinter dem Autoscooter gesehen, und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Vielleicht erkennen sie mich ja, und was dann? Und was, wenn die beiden irgendwas vorhaben? Ich meine, das sind doch«, sie senkte die Stimme, sodass er sie bei dem Hintergrundlärm kaum noch verstehen konnte, »das sind doch Terroristen, oder nicht?«

      Inzwischen war der Aufzug gekommen und Markus hatte bereits die Tiefgarage angewählt. Sämtliche Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. »Das stimmt«, bestätigte er. »Wo genau befinden Sie sich jetzt, Frau Berg?«

      »Am Kassenhäuschen von Raths Autoscooter. Meine Eltern sind auch da und die Kinder. Ich muss gleich zu ihnen, sonst wundern sie sich, wo ich abgeblieben bin. Aber was, wenn diese beiden ... wenn sie mich mit meiner Familie sehen? Sind wir dann alle in Gefahr?«

      »Bleiben Sie ganz ruhig«, antwortete Markus. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, war er auch schon aus dem Aufzug heraus und eilte zu seinem schwarzen Z3. »Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen. Lassen Sie sich nichts anmerken, aber entfernen Sie sich nicht vom Autoscooter. Solange Sie sich in einer Menschenmenge aufhalten, sind Sie in Sicherheit.«

      »Aber was, wenn die beiden etwas im Schilde führen?« Jannas Stimme zitterte leicht und er fürchtete schon, sie könnte in Panik ausbrechen.

      »Ich kümmere mich darum«, sagte er in beruhigendem Ton. »Behalten Sie einfach die Ruhe.« Er unterbrach die Leitung, sprang in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen an. Gleichzeitig wählte er die Nummer seines Vorgesetzten Walter Bernstein, der sich in seinem verdienten Feierabend befand.

      Als Walter sich meldete, schoss Markus bereits mit überhöhter Geschwindigkeit hinaus auf die Kaiserstraße. »Walter, wir haben ein Problem. Frau Berg hat auf Pützchens Markt zwei Mitglieder der Söhne der Sonne entdeckt. Was meinen Sie? – Weiß ich nicht. Ich hatte noch keine Zeit, mit ihr darüber zu sprechen. Ich bin aber schon auf dem Weg zu ihr. Geben Sie den Kollegen vor Ort Bescheid, dass sich möglicherweise etwas tun könnte. Wir brauchen eine Code-Gelb-Alarmierung. – Ja, ich melde mich, sobald ich mehr weiß.« Markus warf das Handy auf den Beifahrersitz und konzentrierte sich darauf, den Jahrmarkt durch den Samstagabendverkehr auf schnellstem Wege zu erreichen.

      4

      Bonn-Beuel

      Pützchens Markt

      Samstag, 10. September, 17:18 Uhr

      »Stimmt etwas nicht, Janna? Du wirkst ein bisschen blass. Geht es dir nicht gut?« Besorgt legte Linda ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn. »In solchen Menschenmengen kann man leicht ...«

      »Nein, schon gut, Mama. Es ist alles in Ordnung.« Mit einem gezwungenen Lächeln wehrte Janna die tastenden Finger ihrer Mutter ab. »Ich glaube, ich muss nur einen Schluck trinken und vielleicht auch einen Happen essen.« Sie schaute zu den Kindern hinüber, die noch immer mit Feuereifer ihre Runden drehten. »Ich schaue mal, was es hier Leckeres gibt. Möchtet ihr auch etwas?«

      Linda wechselte einen fragenden Blick mit ihrem Mann, der den Kopf schüttelte. »Nein, danke, mein Schatz. Wir wollen ja nachher mit den Kindern in die Pizzeria. Bist du sicher, dass du jetzt essen willst? Damit verdirbst du dir doch den Appetit.«

      »Ich, äh ...« In diesem Moment sah Janna Markus auf sich zukommen. Er suchte ihren Blick und deutete unauffällig in Richtung eines anderen Karussells. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie heftig die Luft ausstieß. »Ich wollte euch gerade erzählen, dass ich eben einen Bekannten aus ... von früher getroffen habe. Er hat mich eingeladen, später noch mit ihm über den Platz zu gehen.« Sie schluckte und hoffte, dass ihre Mutter das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Wäre es sehr schlimm, wenn ihr ohne mich zur Pizzeria fahren würdet?«

      Erneut wechselten ihre Eltern einen Blick, dann antwortete Bernhard: »Aber nein, Janna. Geh nur und amüsier dich ein bisschen. Du kommst ja sonst nicht oft raus. Wer ist denn dieser alte Bekannte? Kennen wir ihn?«

      »Äh, nein, ich glaube nicht.« Janna hob die Schultern.

      »Wie kommst du denn später nach Hause?«, wollte Linda wissen. »Sollen wir dich abholen?«

      »Ach nein, das braucht ihr nicht. Ich nehme einfach den Bus zum Hauptbahnhof und fahre mit dem Zug nach Rheinbach. Von dort aus kann ich leicht ein Taxi nehmen; ist ja dann nicht mehr weit.«

      »Hatte Sander nicht vor, heute Abend noch anzurufen?«, hakte Linda nach. »Er wird enttäuscht sein, wenn du nicht da bist.«

      Janna nickte. »Ich schicke ihm eine SMS, dass ich mich morgen bei ihm melde. Er ist auch bestimmt erschöpft nach einem langen Tag auf dem Zahnärzte-Kongress. Also ... ich gehe mal was essen und dann zu ... unserem Treffpunkt.«

      »Viel Spaß, mein Schatz!«, rief Linda ihr nach.

      Janna winkte und eilte zu dem Fahrgeschäft Flashdance, hinter dem Markus Neumann verschwunden war. Dort sah sie sich um, konnte ihn aber nirgends sehen. Unsicher drehte sie sich einmal um die eigene Achse und erschrak, als er plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand und sie anlächelte.

      »Huch, haben Sie mich erschreckt!«, rief sie und musterte ihn neugierig. Er wirkte so anders auf sie, bis sie erkannte, dass sie ihn bisher immer nur in korrekten, todschicken Anzügen gesehen hatte – außer bei ihrem ersten Zusammentreffen, bei dem er in einer zu kleinen Putzmann-Uniform gesteckt hatte. In Bluejeans, dem weinroten Hemd mit dem wirren Buchstabenmuster und der Lederjacke wirkte er nicht nur lässiger, sondern auch wesentlich zugänglicher. Gut sah er sowieso aus, ganz gleich, was er trug. Sein dunkelbraunes Haar war etwas kürzer als noch vor einer Woche, offenbar hatte er erst kürzlich den Friseur aufgesucht. Seine graubraunen Augen waren fragend auf sie gerichtet, und sie wurde sich bewusst, dass sie ihn für einen Moment angestarrt hatte. Verlegen senkte sie den Blick, bekam aber noch mit, dass sein Lächeln sich eine Spur vertiefte.

      »Jetzt erzählen Sie mir ganz genau, was passiert ist und wo sie Alim und Abida gesehen haben.«

      »Alim und Abida?« Sie hob den Blick wieder.

      »So heißen die beiden, falls es sich tatsächlich um dieses Pärchen handelt«, erklärte er. »Abida und Alim bin Salama sind Geschwister und waren bis vor zwei, drei Jahren nur wegen kleinerer Delikte aktenkundig. Diebstahl und Betrügereien. Dann haben sie sich offenbar den Söhnen der Sonne angeschlossen und damit gleich mehrere Stufen auf der Karriereleiter genommen.«

      »Karriereleiter?« Sie zog die Stirn kraus.

      Markus zuckte die Achseln. »Von Kleinkriminellen zu Terroristen ist schon eine deutliche Beförderung, finden Sie nicht? Die beiden stammen aus Tunesien, sind aber hier in Deutschland aufgewachsen. Allerdings nicht in den besten Kreisen, wie Sie sich denken können.« Als in diesem Moment The Final Countdown aus den Lautsprechern des Fahrgeschäfts dröhnte, bedeutete er ihr, sich ein wenig von dem Lärm


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