Die geheime Sprache der Tiere. Elisa S. Suter
chemischer Botschaften. Also kann der Mensch mit seinem subjektiven Selbstverständnis ein Tier nie vollkommen verstehen. Er müsste es aus dessen eigener Perspektive betrachten können, mit den tierischen Sinneswahrnehmungen, Berechnungen, Überlebensmechanismen und so fort.
Schon Protagoras, ein griechischer Philosoph des Altertums (486-411 v. Chr.), stellte fest: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge.” Und René Descartes (1596-1650), der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, drückte es so aus: “Ich denke, als bin ich.” Auf gut Latein: “Cogito ergo sum.” Auch dieser Satz deutet zurück auf das Subjekt. Immanuel Kant (1724-1804), der große deutsche Philosoph, wanderte in die gleiche Richtung, denn auch er wies darauf hin, dass sich der Mensch innerhalb subjektiver Wahrnehmungskategorien bewegt, zudem innerhalb von Raum und Zeit. Philosophen wie Fichte, Schelling und Schopenhauer schlugen in dieselbe Kerbe. Schopenhauer definierte gar “Die Welt als Wille und Vorstellung”, wie auch der Titel seines wichtigsten Buches lautete.
Ein Stückchen Tierphilosophie
Und so müssen wir realisieren, dass Bewusstsein die Wirklichkeit beeinflusst, definiert und, konsequent zu Ende gedacht, eigentlich erst ermöglicht. Auch der Biophysiker Ulrich Warnke bestätigte diesen Umstand. Wirklichkeit ist also immer subjektiv, sie ist notwendigerweise subjektiv. Denn wenn es keinen Beobachter gäbe, der mittels seiner persönlichen Wahrnehmungen und seines Verstandes ein Tier zu begreifen versucht – könnte es nicht beschrieben und erfasst werden.
Das aber heißt: Der Beobachter steuert die Wirklichkeit. Er erschafft sie eigentlich erst. Er “erschafft” das Tier innerhalb seiner eigenen Konzepte und Verständnismöglichkeiten. Jeder Mensch “erschafft” in diesem Sinne Tiere mit seinem Bewusstsein, unabhängig davon, ob er es weiß oder nicht. Die Tiere, wie wir sie wahrnehmen, sind nichts als die Projektionen unserer Sinne und unseres Verstandes. Das Tier selbst dagegen “sieht” sich vollständig anders. Falls es über ein “Selbst-Bewusstsein” verfügen würde, hätte es eine von der menschlichen Konzeption fundamental unterschiedliche Sichtweise.
Bemühen wir als Beispiel noch einmal den Hund. Er erfährt die Umwelt vor allem durch sein Riechorgan – das manchmal tausendfach besser entwickelt ist als das Riechorgan eines Menschen. Außerdem “betrachtet” er die Welt von einem ganz anderen Blickwinkel aus: Er schnüffelt ständig, was unmittelbar am Boden vor sich geht. Würden wir uns ganz ernsthaft bemühen, den Hund besser zu verstehen, so müssten wir uns auf alle Viere niederlassen und eine Weile die Welt aus seiner Perspektive wahrzunehmen versuchen. Wahrscheinlich kann der Hund außerdem aus einer einzigen Geruchsinformation hundert Rückschlüsse ziehen, die dem Menschen völlig fremd sind.
Versuchen wir nun, die Welt aus den Augen eines Pferdes zu betrachten. In diesem Fall müssen wir feststellen, dass es einen viel weiteren Blickwinkel besitzt als wir selbst. Warum? Nun, seine Augen befinden sich an den Seiten des Kopfes, nicht vorn wie beim Menschen. Das Pferd kann also beinahe in einem Umkreis von 360° sehen. Es verfügt über ein fantastisches Blickfeld. Befindet sich jedoch beispielsweise ein Gegenstand direkt vor dem Pferd, unmittelbar vor seinem Maul, kann ihn das Pferd nicht wahrnehmen, da die Augen ja seitlich angesiedelt sind. Es gibt also einen kleinen blinden Punkt.
Auch einige Tiere verfügen über weitaus bessere Fähigkeiten zu sehen als der Mensch. Denken wir nur an viele Katzenarten, die in dieser Beziehung weitaus talentierter sind als wir: Sie können selbst bei Nacht sehen. Wieder definiert sich “Wirklichkeit” für diese Tiere anders. Es handelt sich bei dem Talent, im Dunkeln etwas zu erkennen, nicht um unsere Wirklichkeit.
Betrachten wir nur die fünf Sinne – sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen –, so erkennen wir sehr rasch, dass diese Sinne bei Tieren vollständig unterschiedlich ausgeprägt und gewichtet sein können.
Wahrnehmung durch das Hören
Bestimmte Tierarten hören weitaus besser als der Mensch. Normalerweise sind in diesem Fall die Ohren größer oder länger. Aber nicht immer ist die Größe der Ohren ein Kennzeichen für eine bessere Hörfähigkeit. Der Afrikanische Elefant etwa benutzt seine Ohren als riesige Ventilatoren. Wenn also die Sonne heiß niederbrennt, pumpt der Elefant Blut in seine Ohren, fächelt sich mit ihnen Luft zu, das heißt, er schlägt sie vor und zurück und kühlt sich auf diese Weise ab. Nur im Allgemeinen zeigen größere Ohren auch die Fähigkeit an, besser zu hören. Eine bestimmte Wüstenfuchsart verfügt ebenfalls über enorm lange Ohren, im Verhältnis zur Körpergröße. Seine Ohren dienen in erster Linie dazu, für uns völlig unhörbare Geräusche wahrzunehmen – wie die Bewegungen kleinster Tiere unter dem Boden.
Ferner haben einige Tiere das Talent, ihre Ohren in alle möglichen Richtungen aufzustellen und zu drehen. Sie hören “rundum”, in einem Umkreis von 360°. Sie justieren ihre Ohren, um in alle Richtungen hin lauschen zu können.
Darüber hinaus besitzen einige Tiere die Fähigkeit, selbst Töne wahrzunehmen, die wir Menschen nicht hören können. Die Fledermaus etwa hört Töne, die für den Menschen gewissermaßen nicht existieren.
Außergewöhnlich ist auch die Schleiereule. Bei ihr sitzt ein Ohr höher als das andere. Dadurch können Töne ebenfalls gänzlich anders wahrgenommen und ausgewertet werden als bei uns Menschen.
Die Entfernung und die Richtung eines Geräusches kann also eine Rolle spielen, wenn es um den höher entwickelten Gehörsinn eines Tieres geht, darüber hinaus aber auch die Lautstärke und sogar die Wellenlänge eines Tones.
Auch solche Beispiele beweisen, dass sich die “Realität” für bestimmte Tiere gänzlich anders darstellt, als wir glauben. Wenn wir Tiere wirklich verstehen wollen, dürfen wir daher nicht den Menschen und damit uns selbst in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken.
Wahrnehmung durch den Geruchssinn
Kommen wir noch einmal auf das Riechorgan zu sprechen. Einige Tiere können Gerüche über viele Kilometer hinweg wahrnehmen. Den Geruchssinn benutzen umgekehrt andere Tiere, um sich zu verteidigen. Sie strömen derart unappetitliche Gerüche aus, dass sie kaum angegriffen werden. Der Bombardierkäfer etwa schießt mit einer Säure um sich; Geruchswolken entstehen, so dass er rasch entkommen kann. Das Graue Riesenkänguru verfügt über eine ähnliche Waffe, genauso wie bestimmte Wanzen, das Stinktier oder der Ameisenbär.
Aber am interessantesten ist die Tatsache, dass einige Tiere aufgrund ihres Geruchssinns die Welt vollständig unterschiedlich wahrnehmen. Da es Tausende von Gerüchen gibt, existieren aller Wahrscheinlichkeit nach auch Tausende unterschiedlicher Talente in dieser Beziehung. – Und jedes Mal ist das Resultat eine völlig andere “Realität” als die, die wir kennen.
Die Welt des Tieres
Um es abzukürzen: Jeder einzelne menschliche Sinn, die fünf Wahrnehmungskanäle also, könnte noch einmal unterteilt werden in buchstäblich Hunderte, wenn nicht Tausende von Unterkategorien, wenn wir ihn auf die Tierwelt umlegen. Dabei haben wir noch nicht einmal davon gesprochen, dass einige Tierarten magnetische oder elektrische Wellen wahrnehmen können. Bestimmte Vogelarten nehmen ohne Zweifel das Magnetfeld der Erde wahr – und richten sich in ihrem Flug danach, wenn sie ihr Winterquartier aufsuchen, das sich auf einem anderen Kontinent befindet.
Und so erkennen wir mit einem Schlag, wie unvorstellbar unterschiedlich die “Realität” und die Welt der Tiere ist – im Verhältnis zum Menschen. Im Grunde genommen versuchen hier (Tier-)Bewohner, die schier von einem anderen Planeten stammen, sich mit der “Rasse Mensch” zu verständigen, überspitzt ausgedrückt. Dabei liegen beide Spezies meilenweit auseinander. Sie verfügen bestenfalls in einem sehr begrenzten Bereich über halbwegs identische Wahrnehmungskanäle.
Wenn wir von Tieren sprechen, reden wir von Bewohnern aus einer anderen Welt. Wir sprechen von anderen Rassen und völlig anderen Daseinsformen. Und nun versucht der Mensch, mit seinen fünf Sinnen und seinem Verstand, der durch seine Wahrnehmungskanäle korrumpiert oder zumindest vorbelastet ist, all diese Welten zu erfassen. Er versucht mit gänzlich anders gelagerten Sinneswahrnehmungen