Offenbacher Einladung. Группа авторов

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Maria Mühl

      D

      ie alten Bäume überragen weit den Ostflügel des Schlosses, einander zugeneigt wiegen sie im Wind ihre mächtigen Kronen. Von vielen Seiten aus sichtbar, von Mauern eingefasst, am Mainbogen entlang streng geometrisch, im Innern vor langer Zeit einmal nach englischem Vorbild verspielter angelegt, jetzt eher praktisch und überschaubar. Von vielen Seiten aus zugänglich, offen in seiner Geschlossenheit, hell und dunkel zugleich, Anziehungspunkt und naturgewaltiger Energieplatz. Die Gegenwart imposanter Geschichte ist hier spürbar.

      Gehe ich heute in den Park?

      Milde Frühlingsluft, Zwielicht in früher Abendstunde, fast unwirkliche Schlossparkzeit. Die Hundeführer sind wieder zuhause. Zum Tête–à–Tête mit diesem Ort braucht man den richtigen Zeitpunkt und die Muße, ohne Eile anzukommen und sich intuitiv führen zu lassen. Ich nehme den Weg links vom Mausoleum auf die große Wiese, vorüber an einem der zwei gigantischen Ginkgobäume. Einer weiblich und einer männlich, an einem Schild an der knorrigen Rinde als Naturdenkmal erkennbar. Aus der Offenbacher Innenstadt kenne ich nur die schlanken, jungen Ginkgos, diese zwei im Park sind dagegen erstaunliche Riesen. Vor langer Zeit waren hier, wo heute bloß Rasenflächen sind, großflächig Beete angelegt. Es wurde einträglich gewirtschaftet. Gewächshaus, Ananashaus. Exotisch und erdverbunden. Es zieht mich weiter zu dem steinernen Fundament der Voliere mit ihren eingelassenen Sitzbänken. Wer wohl hier vor vielen Jahrhunderten gesessen hat? Dieser Steinhaufen mit einem erhabenen Grundriss ist geblieben, der zum Aufbau von etwas Groteskem animiert. Ich nehme unter rauschenden Baumriesen Platz. Sie haben eine beruhigende Wirkung auf mich. Dann schließe ich die Augen, um besser hören zu können. Der Wind frischt auf. Die Glocke der Schlosskirche schlägt, Getrappel sowie Stimmen in der Ferne, und ganz nah kleine Schritte.

      Höre ich tatsächlich Vogelgezwitscher? Welcher Vogel singt denn um diese Uhrzeit noch so vergnügt?

      Ich blicke verwundert auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen mit leuchtend rotem Haar. Sie trägt eine Spieluhr in der Hand. Die verzierte Oberfläche, darauf ein bunt bemaltes, sich aufgeregt drehendes Vögelchen, es glänzt im hellen Licht. Woher kommt das Licht, woher das Mädchen?

      Sie lacht und hält mir stolz die Silberdose hin. »Die schenkte mir heute mein werter Vater zu meinem Geburtstag.«

      »Da gratuliere ich dir sehr!«

      Fröhlich dreht sie sich im Kreis. Ihr weißes Tüllkleid mit feinen Rüschen und Spitzen raschelt und rauscht mit den Bäumen um die Wette. Ihre kleine Perlenkette schwingt mit, als sie in bestickten Seidenschuhen vor mir auf und ab hüpft. Das metallische Vögelchen begleitet immer weiter melodiös dazu: »Luise! Luise!«

      »Habt Ihr meinen Ball gesehen? Meinen kleinen, goldenen Ball?«

      Ich verneine. Sie dreht sich noch einmal im Kreis, bevor sie in Richtung Park rennt und mir zuruft: »Kommet mit! Helfet mir suchen! Schauet Euch um im Garten meines Vaters!« Weg ist sie. So schnell kann ich mich gar nicht umdrehen. Kalter Wind fegt über den kleinen Aussichtshügel, den ich sofort hochlaufe, um von dort aus besser nach ihr ausschauen zu können. Nichts. War das eine Erscheinung? Ich nehme den schmalen Pfad hinunter, ihr hinterher, um sie und ihren goldenen Ball zu suchen, zur Säule mit den großen Initialen F und L, rechts herum weiter zum Monopteros. Dort im Rundtempel stehe ich im ältesten Gebäude des Parks. Ich rufe zum fürstlichen Wappen hoch oben in der Kuppelmitte ihren Namen. Das Echo kommt etwas dunkler zurück: »Luise!«

      »Ich bin doch hier! Wo bleibet aber Ihr?«, antwortet sie direkt neben mir eine Spur vorwurfsvoll, als sei es völlig normal, mit ihrer singenden Spieldose plötzlich wieder neben mir zu stehen. »Kommet doch mit in den Park. Wir müssen suchen, bevor es dunkel wird!« Sie fasst mit zarter Kraft nach meiner Hand und führt mich zur großen Wiese. Etliche betagte Bäume, wie im familiären Kreis gepflanzt, stehen gleich zur Linken. Diese Bäume ziehen mich magisch an, doch als Luise bemerkt, dass ich mich in deren Mitte bewegen möchte, drückt sie meine Hand ganz fest und zieht mich fort. »Nein, gehet nicht dorthin. Kennet Ihr nicht deren dunklen Mächte?« Ein dröhnendes Knacken und Knarzen bekräftigt ihre Worte, als hätte man uns belauscht. Die Szenerie ängstigt mich, wir laufen schnell weiter. Luise lenkt mich auf einen mir völlig unbekannten Weg. »Wo sind wir denn hier, Luise?«

      »Ich dachte mir schon, dass Ihr Euch ohne mich verlaufet. Ich zeige Euch den echten Garten meines Vaters.«

      »Den ›echten‹ Garten«, murmele ich still vor mich hin, ich habe wahrscheinlich wirklich keine Ahnung. Also folge ich der kleinen Dame. Wir gehen über verschlungene Wege. Der Park erscheint mir viel größer, als ich ihn in Erinnerung habe. Es eröffnet sich ein völlig neuer Blick mit fremdartigen Bäumen und lauschigen Plätzen, die zum Verweilen einladen, als sei alles naturgegeben und nichts geplant.

      »Luise, sag einmal, woher kennst Du diese Wege so gut?«

      »Wisset Ihr denn nichts?«, kichert sie. »Ich wohne doch im Schloss. Hinter dem Schloss liegt das Gemüseland, wo das Grünzeug angebaut wird und die vielen Obstbäume stehen, auch ein Treibhaus mit Ananaspflanzen haben wir – und dies ist unser Park. Mein werter Vater beauftragte den Herrn Baurat Francke, dass wir auch einen schönen Schlosspark bekämen wie die britische Verwandtschaft.«

      Langsam wird mir klar, dass ich mich im wahrsten Sinne auf historischem Terrain bewege. Soso, ihr Vater scheint ja wichtig zu sein und sie wohnt mit ihrer Familie im Schloss. Warum hatte ich sie vorher noch nie gesehen?

      »Hast du noch Geschwister, Luise?«

      »Aber ja! Ich habe sieben Geschwister.« Sie springt tänzelnd um mich herum und beginnt im Takt zu singen: »Wil–helm, Karl Fried–rich–im–Him–mel, Frie–drich Wil–helm, Lu–dwig Karl–im–Himm–mel, Ge–org Karl, Ma–rie und Au–gus–te!« Das Vögelchen flattert aufgeregt dazu. Luise läuft vor mir her. »Kommet schneller. Es wird bald dunkel.«

      Der Park scheint kein Ende zu nehmen. Hier plötzlich eine Gabelung, dort eine kleine Lichtung, gewundene kleine Hohlwege. Wir schauen hinter steinernen Bänken, hinter jeden Baum und Strauch und dornigen Rosenbusch, an kleinen Plätzen und in einer umrankten Gartenlaube, die ich zuvor auch noch nie bemerkt habe. Luise lenkt unseren Weg quer über die Wiese, vorüber an schlanken Bäumen, die im Schutz von alten, dicken Stämmen stehen und aussehen, als ob sie ihre Köpfe zusammenstecken. Als sich Luise ihnen nähert, fangen sie an zu tuscheln und zu zischeln: »Oh, da kommt unsere liebliche Prinzessin! Schaut her, schaut her! Welch eine Ehre, sie besucht unsere kleine Lichtung, ein Platz für sagenhafte Dichtung, der Wein fließt in Strömen, die Fürsten frohlocken, die Damen tänzeln und laden ein zum Stelldichein. Wir bitten zu Ränken und manchen Spielen. Das Dorf bleibt draußen, wir plänkeln unter uns.«

      Luise zieht mich wieder energisch weiter. »Kommet fort von diesen hochnäsigen Bäumen!«

      Dieser Spaziergang wird immer skurriler, warum auch immer, mich wundert es nicht, dass Bäume reden und dieses Mädchen eine Adlige aus dem Schloss zu sein scheint. Diese kleine Person hat ein überzeugendes Auftreten. »Du bist eine Prinzessin, kleine Luise?«

      »So wie meine beiden jüngeren Schwestern.«

      Aus der Ferne wehen Musik, Stimmen und Gelächter zu uns rüber, als würde ein Karussell sich drehen und Kinder dazu jauchzen. Bunte Lichter blitzen durch das Geäst. Ein Fest im Schloss, ein heimliches Treffen im Park? »Was ist denn da los? Weißt du das, kleine Prinzessin?«

      Luise reißt erschrocken ihre großen blauen Augen auf. »Oh weh! Das ist das Fest zu meinen Ehren. Das Karussell dreht sich heute, die Kapelle spielt. Ich muss mich verabschieden. Suchet bitte alleine weiter!«

      In Windeseile läuft sie über die dämmrige Wiese, rosafarbene Seidenbänder wehen am Kleid. Während ich ihr nachschaue, sehe ich plötzlich ein goldenes Funkeln inmitten der immer noch leise näselnden Bäume. »Luise! Luise!«, rufe ich. »Dein Ball! Ich habe ihn gefunden. Lauf nicht fort.« Ich renne ihr hinterher, renne weiter und weiter … stolpere über mächtige Baumwurzeln, stürze ungebremst und knalle auf den harten Wiesenboden. Mir wird schwarz vor Augen, in meinen Ohren rauscht es laut. Wer weiß, wie lange ich dort so liege?

      Plötzlich


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