Auf Herz und Nieren. Stefan Loß

Auf Herz und Nieren - Stefan Loß


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die von Kindersoldaten im Kongo vergewaltigt und verstümmelt worden sind. Als wir mit unserem Geländewagen ins Lager kamen, fielen uns erst die typischen UN-Container auf. Weiß und mit gut sichtbaren UN-Symbolen. Hier waren die Büros und Behandlungsräume untergebracht. Dahinter standen große weiße Zelte. Wir durften einen Blick hineinwerfen, aber nicht filmen. Der Geruch war schier unerträglich. Es stank nach Kot und Urin. Auf den Betten lagen Hunderte Frauen. Die meisten blickten apathisch an die Decke oder schliefen. Es war eine unheimliche Stille in diesem Zelt.

      Josephine, unsere Begleiterin, wies uns auf eine Frau hin, die blind war. Die Kindersoldaten hatten sie erst vergewaltigt, dann verstümmelt und am Ende mit glühenden Klingen geblendet. Das Entsetzen der Frauen war fast mit Händen zu greifen. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit lagen in der Luft. Später haben die Ärzte uns erklärt, mit welchen Operationsmethoden sie die Frauen chirurgisch wiederherstellen. Ein Eingriff, der nicht nur ihrem Körper hilft. Er gibt den verstümmelten und stigmatisierten Frauen vor allem auch ihre Würde zurück.

      Josephine hatte uns auf unserem Rundgang die ganze Zeit begleitet. Jetzt war es Zeit für ein Interview. Wir suchten uns einen Platz am Ufer des Lake Kiwu, eine Bank auf einem erkalteten Lavastrom in Sichtweite der Zelte. Hier erzählte sie mir von ihrer Arbeit. Sie war ausgebildete Psychotherapeutin und Seelsorgerin. Ihre Aufgabe war es, den Frauen dabei zu helfen, ihr Trauma zu überwinden, damit sie wieder leben konnten. Josephine war überzeugt: Um gesund zu werden, mussten die Frauen lernen, Frieden mit sich selbst zu machen, und lernen, den Tätern zu vergeben. Sie mussten lernen, den Menschen zu vergeben, die sie so grausam misshandelt und gefoltert hatten.

      Ich fragte sie, warum das nötig war. Josephine sagte, dass die Frauen anders nicht überleben konnten. Der Hass und die Wut würden sie zerfressen. Sie mussten vergeben lernen, nicht wegen der Täter, sondern wegen sich selbst. Um überhaupt wieder leben zu können. Tag für Tag war Josephine in den Zelten unterwegs, hielt den Frauen die Hände, hörte sich ihre Geschichten an, trocknete die Tränen, brachte ihnen Hoffnung und sprach ihnen Mut zu.

       Ihre Geschichte – meine Geschichte

      Immer wieder habe ich Geschichten davon gehört, wie Gott Menschen in schweren Lebenslagen Halt gibt. Hoffnung, eine Perspektive. Dass seine Liebe Biografien von Menschen radikal verändern kann. Natürlich haben mir diese Lebensberichte geholfen. Sie haben meinen eigenen Glauben verändert. Aber das waren die Geschichten von anderen Menschen, nicht meine eigene. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Menschen interviewe, der eine schwere Lebensgeschichte hat, oder ob ich die gleichen Fragen mir selbst stellen muss: „Was trägt mein Leben, was gibt mir Halt, wenn es schwierig wird?“

      Wenn man sich die grundlegenden Fragen des Lebens nicht aus intellektuellem Interesse stellt, sondern aus persönlicher Betroffenheit, bekommen solche Fragen eine ganz andere Brisanz.

      So ging es mir, als mir langsam klar wurde, was die Diagnose „Zystennieren“ für mich und mein Leben bedeuten würde: Nämlich eine Herausforderung, die mein Leben auf den Kopf stellen würde. Die Nagelprobe für meinen eigenen Glauben und für das Fundament, auf das ich mein Leben gestellt hatte. Würde sich dieses Fundament tatsächlich als tragfähig erweisen?

      Plötzlich musste ich die Perspektive wechseln. Jetzt war ich der Protagonist der Story. Im Storytelling gibt es einen Ausdruck für die Dramaturgie in einem Film, wenn man eine gute Geschichte erzählen will. Man nennt das „Heldenreise“. In allen guten Kinofilmen gibt es eine solche „Heldenreise“. Jetzt war ich selbst der „Held“ einer Geschichte – ob ich wollte oder nicht. Und mir wurde noch einmal bewusst: Mit solchen Heldengeschichten lassen sich schöne Filme machen.

      Selbst ein „Held“ zu sein bei meiner eigenen Geschichte, von der ich noch nicht wusste, ob sie ein „Happy End“ haben würde – darauf hätte ich gerne verzichtet. Aber warum sollte es mir anders gehen, als all den anderen „Helden“ im Film?! – Keiner macht sich freiwillig auf diese Reise.

       Kapitel 3

       Aufbruch zu einer Reise, die ich nie antreten wollte – und die vage Hoffnung auf ein Wunder

      Dein Wort ist wie ein Licht in der Nacht, das meinen Weg erleuchtet.

      PSALM 119,105 (HFA)

       Ich und krank?

      Kranksein war für mich nie eine Option. Obwohl ich kaum Sport getrieben habe, fühlte ich mich immer ziemlich fit. Ein Strich in der Landschaft und Jeansgröße 34/32 bis weit in die Dreißiger. Eine Knieverletzung brachte mich mit vierzehn zum ersten Mal ins Krankenhaus. Gott sei Dank kannte ich Kliniken sonst nur als Besucher. Ich war eigentlich gesund, soweit ich mich zurückerinnern kann. Sehr selten krankgeschrieben, allenfalls mal eine kleine Erkältung alle paar Jahre. Was für jemanden, der viele Jahre lang freiberuflich gearbeitet hat, durchaus praktisch war. Nur ein hoher Blutdruck begleitete mich wohl schon eine ganze Weile. Bei jedem Arztbesuch die gleiche Bemerkung: „Ihr Blutdruck ist aber ziemlich hoch!“ Wirklich beunruhigt hat mich das nie. Es gibt Menschen, die leiden am sogenannten „Weißkittelblutdruck“, der immer dann hoch ist, wenn er in einer Arztpraxis gemessen wird. Jedenfalls war das für mich kein Grund, nervös zu werden.

      Dass ein hoher Blutdruck auch ein Anzeichen für Nierenprobleme sein kann, sollte ich erst sehr viel später lernen. Weil ich mich fit fühlte, lebte ich nicht wirklich gesund. Kein Sport, zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, dreißig Zigaretten am Tag und ein, zwei, drei Bierchen am Abend war viele Jahre Standard für mich. Den ersten Schuss vor den Bug bekam ich im April 2005. Bei einer Reportage-Reise durch Simbabwe hatte ich plötzlich einen Blackout. Mir war schwindelig und ich konnte kaum noch stehen. Der Schwindel wurde leider bis heute mein ständiger Begleiter.

      Zurück in Deutschland wurden meine Nieren gründlich gecheckt – ohne Befund. Die Ärzte gingen davon aus, dass der nach wie vor hohe Blutdruck der Auslöser für den Anfall war. Ich wurde mit Medikamenten eingestellt und bekam Betablocker, die mich in den nächsten Wochen so richtig ausbremsten. Mein Blutdruck war gut eingestellt, aber ich fühlte mich, als hätte mir jemand Gummistiefel angezogen und mich in den Sumpf geschickt. Es war alles so mühsam, ich war ständig müde. Und der massive Schwindel war immer noch da. Langsam kroch eine Depression in mir hoch. Nach einer Reha im Sommer 2006 nahm ich insgesamt fünfundzwanzig Kilo ab, die Medikamente wurden umgestellt und ich begann mit meinem Sportprogramm. Fahrradfahren wurde meine Leidenschaft. 2007 und 2008 habe ich es auf – jeweils – rund sechstausend Kilometer gebracht. Und ich war fit – bis auf den Dauerschwindel. Erst nach einer wahren Arztodyssee stellte sich die Ursache für meinen Schwindel heraus: Mein Gleichgewichtssinn im rechten Ohr war zerstört. Leider irreparabel. Ein Handicap, an das ich mich gewöhnen musste. Damit ich beim Radfahren nicht jedes Mal, wenn ich einen Blick über die Schulter wagte, in den Büschen landete, legte ich mir einen Rückspiegel zu. Sieht seltsam aus, hilft aber.

       Die Diagnose

      Mein Hausarzt behielt meine Nieren weiter im Blick. Aber weil ich mich nicht krank fühlte, kam ich nicht so regelmäßig wie vereinbart. Im Sommer 2008 machte er erneut einen Ultraschall der Nieren und wurde etwas blass. Er sprach von Nierenzysten oder Zystennieren – beides sagte mir nichts. Er überwies mich an einen Nephrologen, also einen Nierenspezialisten, und der konfrontierte mich dann am 23. Oktober 2008 mit der Diagnose „Zystennieren“. Das hat mich völlig unvorbereitet getroffen.

      Schließlich sind Zystennieren eigentlich eine Erbkrankheit. In den betroffenen Familien erkrankt etwa die Hälfte aller Familienmitglieder. Früher sind diese Menschen früh gestorben. Wenige sind älter als sechzig geworden. Wirkungsvolle Behandlungsmethoden, wie zum Beispiel die Dialyse, gibt es erst seit Anfang der 1960er-Jahre. Davor war eine Niereninsuffizienz ein Todesurteil.

      In meiner Familie aber sind fast alle weit über achtzig geworden, und das ohne irgendwelche Krankheiten.


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