Kafka und Felice. Unda Hörner
mit dem großen Unbekannten ohnehin schon abgeschrieben.
Dass Herr Kafka sehr beschäftigt sei, antwortete Felice, schließlich sei er neben seinem anspruchsvollen Posten bei der Versicherung Teilhaber einer Fabrik, und außerdem schreibe er ja auch noch an einem Buch.
Was muss er denn schriftstellern, entgegnete Anna Bauer, er hat doch einen richtigen Beruf.
Der Mutter war die Vorstellung von einem Dichter vollkommen fremd, und wenn Felice ehrlich war, fiel es auch ihr nicht leicht, sich in ein Gehirn wie das von Franz hineinzuversetzen, in einen Menschen, der in geistigen Höhenflügen Sätze formte, bis ihm die Geister aus den Sätzen leibhaftig entgegentraten.
Franz erscheint mir mit seinen feinen Gedanken wie ein Mysterium, in ihm steckt etwas ganz Großes, das fühle ich, entfuhr es ihr stattdessen laut und trotzig.
Anna Bauer ließ nicht locker: Das Dichten ist wohl ansteckend, kein Wunder, dass du dir die Nächte mit Briefeschreiben bei Kerzenlicht um die Ohren schlägst und gähnst, wenn der Wecker in der Frühe klingelt! Das ist dein Ruin!
Felice erschrak dieser Tage ja selbst über ihr wenig liebliches Spiegelbild: Augenringe, eine angestrengte steile Falte stieg auf der Stirn empor, und sprießte da nicht ein erstes graues Haar am Scheitel?
Das hat mit Franz gar nichts zu tun, sagte sie abwehrend. Sie schob ihre Erschöpfung auf die viele Arbeit, auf diesen Herrn Neble, ein Vertreter der übelsten Sorte, der sich wegen irgendwelcher unvollständigen Materiallisten beim Chef über sie beschwert hatte.
Die Stricknadeln klapperten wieder gleichmäßig in Anna Bauers Händen, als Felice sich mit dem Brief aus Prag in ihr Zimmer entfernte und die Tür hinter sich schloss. Unmöglich, ihn im Beisein der Mutter zu öffnen; das wäre wie eine große Umarmung vor fremden Leuten. »Liebste meine Liebste«, las sie, »aus Liebe wollte ich, nur aus Liebe, mit Dir tanzen, denn ich fühle jetzt dass das Tanzen, dieses Sichumarmen und Sichdabeidrehn, untrennbar zur Liebe gehört und ihr wahrer und verrückter Ausdruck ist. […] Dein Franz.« Felices Tränen flossen ungebremst und wollten nicht versiegen, als sie die Feder zur Hand nahm und schrieb: »Wir gehören unbedingt zusammen.«
Doch der Zug von Prag nach Berlin, der noch rechtzeitig zum Fest ankäme, war bereits abgefahren.
Die Weihnachtstage fielen wider Erwarten recht angenehm aus, auch Felices Kopfschmerzen hielten sich in Grenzen. Die Wertheim-Kaufhäuser blieben ausnahmsweise am Sonntag vor Heiligabend ab 13 Uhr geöffnet, das Stündlein der lebenden Karpfen und der Oderbruchgänse hatte geschlagen. In der zentralen Warenhaushalle voller echter Palmen und plätschernder Brunnen duftete es würzig nach Lebkuchen. Die Gedecke bei Wertheim waren köstlich, und jetzt, wo die Leute sich die Adventszeit veredeln wollten, bot die Küche besonders feine Speisen an, Sarah-Bernhardt-Suppe und Mandelpudding. Felice gönnte sich Spargel, die weißen Stangen aus Übersee schmeckten ebenso köstlich wie im Frühling die aus Beelitz, und weil Franz auch jedes Detail ihrer Ernährung wissen wollte, beschrieb Felice ihm ihre Gaumenfreuden. Spargel im Winter! Das löste beim enthaltsamen Fan der Reformküche einen kleinen Skandal aus.
Die Bauers wussten das christliche Fest durchaus zu genießen. Zwar hatte man keinen lamettageschmückten Weihnachtsbaum aufgestellt, zu Hause auf dem Vertiko im Wohnzimmer brannten die Kerzen eines Chanukkaleuchters. An den Feiertagen kamen wie angekündigt Bekannte der Eltern zu Besuch, man saß bei Punsch und selbst gebackenen Plätzchen am Tisch. Ein ausgedehnter Spaziergang führte die Familie bis in den Grunewald, wo sie in einer Ausflugsgaststätte einkehrten und schon nachmittags mit Wein anstießen. Man freute sich an der elektrischen Beleuchtung, die zunehmend die Berliner Straßen erhellte, Sterne und Schneekristalle passend zum Fest. Felice kam sogar dazu, das Berliner Tageblatt zu lesen, ein Luxus, den sie sich bei ihrer knapp bemessenen Zeit sonst nicht leisten konnte; gewöhnlich erhaschte sie nur die Schlagzeilen der Zeitungen in den Händen der Leute in S-Bahn und Elektrischer.
Am ersten Weihnachtstag lancierte das Tageblatt eine launige Umfrage unter dem Motto ›Muss er hübsch sein? Muss sie klug sein?‹ Rede und Antwort standen die russische Primaballerina Anna Pawlowa, der junge Prager Schriftsteller Franz Werfel oder eine Berliner Malerin: »Sobald er einen Schnurrbart trägt, ist’s aus«, antwortete diese, und das erinnerte Felice daran, dass sich, lange bevor sie Franz kennenlernte, ein Herr um sie bemüht hatte, den sie schon wegen seiner Glatze nicht leiden konnte. Was der verrückte Dichter Paul Scheerbart schrieb, entzückte Felice: »Das Schwierigste bei der Sache ist dieses: Sie muss wahrhaftig eine ganze Fülle von Klugheit besitzen, um Ihm geschickt was vormachen zu können … aber – wehe, wenn Ihr einfällt, eine ›wirklich‹ kluge Frau zu werden! Dann würde sie ja unter Umständen geneigt sein, ›kritisch‹ gegen Ihn vorzugehen. Na – und da kann ich nur aus langjähriger Erfahrung sagen: die Kritik löst die besten Ehen auf.«
Felice schnitt den Artikel aus und schickte ihn Franz, gespannt auf seine Antwort, die vielleicht etwas über seine Zukunftsvorstellungen verriet. Postwendend kam Antwort, darin stand nichts, was Felice auch nur annähernd zu mehr Aufschluss verhalf. Franz hatte wenig Sinn für die Blüten, die der Journalismus in den Feiertagsbeilagen trieb: »Was für urdumme Fragen da gestellt sind! Die Zeitung bekommt dadurch eine Art menschlichen, wenn auch idiotischen Gesichtes. […] Also ›er‹ muss allerdings hübsch sein. ›Sie‹ dagegen muss nichts mehr und nichts weniger sein, als ganz genau so, wie sie ist.«
Der Tänzer vom Silvesterball
Zu Silvester tanzte Felice, ohne Franz. Der saß zu Hause in Prag allein in seinem Zimmer, trank, in ein warmes Tuch gehüllt, heiße Limonade und träumte von ihr. In allen Ballhäusern Berlins war ordentlich was los, Berlin war voller Festsäle, die buntes Programm boten, Bühlers Ballhaus in der Auguststraße, der Saalbau in der Pappelallee, das populäre Riviera in Grünau. Felice musste sich entscheiden, ob sie mit Arbeitskolleginnen in den vornehmen Admiralspalast oder mit Schwester Toni in eins der näher gelegenen Etablissements im Prenzlauer Berg gehen wollte.
Kein Geheimnis, dass Bälle der Eheanbahnung dienten, schon jetzt war Franz eifersüchtig auf die vielen Leute, mit denen Felice sich zuprosten, lachen und tanzen würde, das ließ er sie wissen.
Als Felice am Silvesternachmittag im rosaroten Samtkleid vor einem hohen Spiegel stand und sich auf dem Absatz ihrer Tanzschuhe drehte, wünschte sie sich Franz herbei. Sie nahm das Foto zur Hand, das sie neben dem von Nichte Muzzi in einem Medaillon um den Hals trug. Schwarzes, offenbar extra für den Atelierbesuch pomadisiertes Haar, Mittelscheitel, hochgeschlossener Kragen, ziemlich elegant. »Ein verdrehtes Gesicht habe ich in Wirklichkeit nicht, den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht, hohe Kragen trage ich längst nicht mehr«, so Franz’ Kommentar zu seinem Porträt.
Ein schöner Mann, der sich doch nicht spreizte wie ein eitler Pfau, und dem man nicht ansah, welch absonderliche Ideen in seinem Kopf herumturnten. Und dennoch, dachte Felice mit geschlossenen Augen, ist es wirklich Franz, nach dem ich mich sehne? In ihrem Traum vom Sichumarmen und Sichdabeidrehn kam er, so sehr sie ihre Fantasie bemühte, nicht vor, und zu Franz’ Stimme, die sie aus seinen Briefen vernahm, gehörte gar kein Körper. Felice öffnete die Augen wieder und sah sich im Spiegel neben einem unsichtbaren Tänzer stehen. Heute, dachte sie, bin ich frei.
Willkommen auf dem Silvesterball! Die feierfrohe Berliner Gesellschaft strömte aus der Winterkälte hinein ins warme Foyer des Ballhauses, unter ihnen Felice und Toni. Der große Saal füllte sich, man nahm Platz an runden, mit Kristallgläsern auf gestärktem Damast festlich eingedeckten Tischen. Kellner flitzten umher und nahmen Bestellungen auf, Blicke wanderten von Tisch zu Tisch, auf einer Bühne stimmte ein Orchester die Instrumente und hob zu einem flotten Schieber an. Nicht lange, und Toni war im Gewimmel auf dem Parkett verschwunden, Felice saß verloren am Tisch, sah man ihr etwa an, dass sie bereits jemandem versprochen war? Ragtime, Walzer, noch ein Schieber, nach einer alleine verbrachten Stunde, vor sich ein leeres Glas und umgeben von ausgelassen tanzenden Menschen, fühlte sich Felice in ihrem schönen rosaroten Samtkleid welken wie ein Mauerblümchen. Sie hatte nicht übel Lust, ihren Mantel von der Garderobe zu holen, durch die Berliner Feiernacht nach Hause zu fahren und in der Stille ihres Zimmers einen Brief an Franz zu schreiben. Das Orchester