Kafka und Felice. Unda Hörner

Kafka und Felice - Unda Hörner


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nicht rührt und sich von mir küssen und wieder küssen lässt. Was ist das für ein Wort! So lückenlos schließt nichts zwei Menschen aneinander, gar wenn sie nichts als Worte haben wie wir zwei.« Franz drehte den Spieß einfach um: Er war ja der Wackelkandidat gewesen, der sie in Unsicherheit gelassen hatte, nicht sie. Doch Felice war glücklich, Franz mit der Erwiderung des Du beruhigen zu können. Ein ähnliches Glücksgefühl verspürte sie, wenn sie den Kindern auf der Straße von ihren Bonbons schenkte.

      »Wie kamst Du zu dem Namen?«, wollte Franz nun wissen.

      Damit traf er einen wunden Punkt, denn Felice hatte ein kleines Problem mit ihrem Vornamen; die Leute waren sich unsicher, wie sie ihn aussprechen sollten. Der eine intonierte französisch, der andere italienisch, die meisten sprachen den Namen aus wie Felize oder nannten sie Felicitas. Und als sie es auf einer Messe einmal mit einem waschechten Italiener zu tun bekam, wunderte der sich, dass der Verfasser der Geschäftsbriefe, die er von Lindström erhalten hatte, eine Frau war. Am liebsten hätte Felice Franz geantwortet: Ich heiße so, weil Franz und Felice klingt wie füreinander erfunden.

      Ob er sie kurz ›Fe‹ nennen dürfe, fragte er. Das erinnere ihn an die Fee aus dem Märchen, ein Kosename zum ins Ohr flüstern. Gewiss dürfe er das, schrieb Felice. Franz schwenkte auch bei Kleinigkeiten gern um: »Wieder gefällt mir Fe nicht so gut wie Felice, es ist zu kurz, der Atem weht nicht lange genug hindurch. […] es ist für Mitschülerinnen gut, für flüchtige Berührungen; Felice ist mehr, ist schon eine ordentliche Umarmung.«

      Auf ihrem niedlichen Schreibtisch mit den schlanken Beinen wuchs ein ansehnlicher Stapel in die Höhe. Sie nahm ihn einmal mehr zur Hand und blätterte durch das Konvolut wie durch ein Daumenkino. Allein, dass Franz so quengelte, wenn sie nicht postwendend antwortete, ließ sie bei der Ankunft jedes Briefes aus Prag nach Luft schnappen, denn das hieß, sie musste sofort nachlegen, wollte sie Vorwürfe vermeiden: »Liebste, das solltest Du nicht! Versprechen, dass ein zweiter Brief kommt und es nicht halten.« Sie kam kaum nach mit dem Schreiben, dabei nutzte sie jede freie Minute, verdarb sich die Augen im Schein ihrer Nachttischlampe. Felice bekam einen Totenschreck, als plötzlich die Mutter in ihrem Zimmer stand und fragte, wie, musst du nicht morgen früh raus? In flagranti erwischt, ließ sie den Federhalter sinken. Löschte das Licht, schlief ein paar Stunden und wieder viel zu kurz, am nächsten Morgen schrieb sie in schlechter Haltung mit dem Briefbogen auf den Knien in der Elektrischen weiter, verwackelte, aber leserliche Zeilen, hin und wieder opferte sie auch die Mittagspause und tippte ihre Privatpost auf der Oliver. Oft zerriss sie eine vollgetippte Seite wieder. Wie schwer es doch war, die Zwischentöne zu treffen, Briefe bekamen gleich sowas Bekenntnishaftes. Felice schwindelte; jedes Mal, wenn sie die Feder zur Hand nahm oder an der Schreibmaschine saß, blickte sie ein Ungeheuer an, das sie zu verschlingen drohte.

      Ende November schon, das Jahr 1912 eilte mit Riesenschritten davon, ohne dass Felice den emsigen Schreiber wiedergesehen hatte. Die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage boten doch die beste Gelegenheit für ein Treffen; Felice bekam eine ganze Woche Urlaub, und auch bei der Prager Versicherung würde die Arbeit ruhen. Sie zog einen Briefbogen aus der Schreibtischschublade und setzte den Federhalter aufs Papier: »Lieber Franz, was wirst Du in den Weihnachtstagen machen?«

      Sie stellte sich vor, wie sie über die im festlichen Lichterglanz erstrahlende Leipziger Straße flanierten und auf dem Schlachtensee Schlittschuh liefen, vielleicht gab es weiße Weihnachten. Andererseits, Berlin war groß und laut, und ein Treffen mit Franz im Kreise der Familie erschien noch zu früh. Außerdem, Felices Erholungsbedürfnis war enorm, warum also nicht erstmal zu zweit oder anstandshalber in Gesellschaft der Brods ins Gebirge, am besten an einen Ort, den Franz von Prag aus gut erreichen konnte, zur Schneekoppe oder ins Erzgebirge, das wäre für sie beide etwa der halbe Weg. Felice brütete an jenem Abend über einer Landkarte von Böhmen und Mähren, und als sie gegen Mitternacht das Licht löschte, schlief sie über dem vielversprechenden Reisegedanken ein, träumte, wie sie mit Franz eine glitzernde Winterlandschaft durchwanderte.

      Franz’ Antwort, zügig wie immer, fiel diesmal kurz und knapp aus: Er müsse schreiben. An einem neuen Manuskript, das zu einem Roman werden sollte, Max Brod hatte es schon angedeutet, es hieß Der Verschollene, vorläufig. Schon bevor er Felice über den Weg gelaufen war, hatte er an dieser Prosa gesessen, und die war die Geliebte mit den älteren Rechten. Felice vermochte es nicht zu leugnen, sie war eifersüchtig auf die Geister, mit denen Franz sich umgab. Lieber verbrachte er Zeit mit diesen Luftgestalten als mit ihr, einer Frau aus Fleisch und Blut. Da half es auch nichts, dass Franz ihr wortreich erklärte, alle seine erdichteten Menschen liefen vereint Arm in Arm auf sie zu, um letzten Endes ihr, Felice, zu dienen. Was hatte sie denn davon? Abgesehen vom, zugegeben, erhabenen Gefühl, mit einem hoffnungsvollen Dichter zu korrespondieren, nichts, bis jetzt jedenfalls. Und was meinte er mit dem Nutzen, den sie von den Geistern hätte? Beim Blick in die Auslagen der nahen Buchhandlung in der Prenzlauer Allee sah sie die Bücher, die sich derzeit gut verkauften, Romane von Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann, und dann der Dauerbrenner Quo Vadis, den Erfolgsroman des Polen Henryk Sienkiewicz über Nero und den Niedergang des alten Rom. Der Autor war steinreich geworden damit, hatte den Nobelpreis erhalten und konnte nun schreiben, was er wollte, oder er musste überhaupt nicht mehr schreiben. Der konkrete Nutzen der Geister konnte doch nur sein, dass Franz eines Tages von der Literatur eine Familie würde ernähren können, so wie die Schriftsteller, die in allen Buchhandlungen lagen. Vorerst bewirkten die Geister aber nichts anderes, als ihn, Franz, von ihr fernzuhalten. Sein Urlaub vom Büro schien auch nicht gerade üppig auszufallen: »Übrigens erinnere ich mich nicht, jemals Weihnachten eine Reise gemacht zu haben; irgendwo hinzurollen und nach 1 Tag zurückzurollen, die Nutzlosigkeit einer solchen Unternehmung war mir immer erdrückend.«

      Felice ließ den Brief in den Schoß sinken. Schroffe Worte aus der Feder desselben Mannes, der sie bereits als seine Liebste anschmachtete und der seine Briefe, ja, so gestand er, mit Küssen versiegelte. Wohl eher die romantische Anwandlung eines Moments. Wenn er seine Liebesschwüre wirklich ernst meinte, müsste es ihn dann nicht mit allen Fasern zu Felice nach Berlin drängen? Und hatte Franz ihr nicht noch vor wenigen Tagen, zum fünfundzwanzigsten Geburtstag, Flauberts Éducation sentimentale übersandt und einen Blumenboten in der Immanuelkirchstraße vorbeigeschickt, mit einem Strauß duftender roter Rosen? Der Strauß stand in einer Vase in Felices Zimmer, doch die Blumen ließen längst die Köpfe hängen. Felice hatte Franz’ heutigen Brief noch nicht zu Ende gelesen. Die letzten Zeilen schürten erneut Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen: »… ist es nicht wichtiger, als der Schreibwut die Freiheit von 6 fortlaufenden Tagen und Nächten zu geben, meine armen Augen endlich mit Deinem Anblick zu sättigen? Antworte Du, ich sage für mich ein großes ›Ja‹.« Die Schneekoppe ragte wieder auf am Horizont.

      Felice konnte sich sogleich an den Schreibtisch setzen, einen unternehmungslustigen Brief an Franz schreiben: »Habe sechs Tage Berghotel Wilder Mann gebucht.« Oder sie konnte schon jetzt zwei Karten vorbestellen für die hochgelobte Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Rose Bernd im Lessing-Theater oder für Orpheus in der Unterwelt, der über Weihnachten im Theater am Nollendorfplatz gegeben wurde. Die Ballets Russes gastierten in der Kroll-Oper, die Truppe unter Leitung ihres Impresarios Sergeij Djagilev wurde überall mit Brio empfangen, die Kritiker überschlugen sich mit Lob, aber Franz hatte die Compagnie bereits in Prag erlebt. Ohnehin gab er den Tanzaufführungen von Dalcroze den Vorzug, die in Dresden-Hellerau Schule machten, wo sich gerade neuartige Reformideen Bahn brachen und über jedes bestehende Gesetz der Kunst hinwegsetzten, sei es im Tanz, in der Architektur oder in der Gestaltung von Möbeln. Felice wollte Franz etwas Spektakuläres bieten, in einer Stadt wie Berlin herrschte ja kein Mangel an Auswahl. Das Berliner Tageblatt war voller Vorankündigungen für die Feiertage, und bei Wertheim waren die Bestellungen für Präsentkörbe mit Entenstopfleber, Marzipankugeln und Dresdner Stollen in vollem Gange. Felice konnte sich noch nicht entscheiden.

      Das entschlossene Ja, das Franz Felice am Ende seines letzten Briefes entgegengerufen hatte, verhallte ohne Antwort. Felice war gerade vollauf mit den aufwendigen Vorbereitungen fürs bevorstehende zehnjährige Firmenjubiläum der Lindström AG beschäftigt. Für den 30. November war eine große Feier mit Tanz und Theateraufführung geplant, in einem Saal in der Potsdamer Straße. Tanzen, ja, das konnte Felice, nur für ihre Rolle als Verkörperung des ›Humor‹ in einem


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