Kafka und Felice. Unda Hörner
aufhielt. So nervös, wie er sich räusperte, hatte er etwas auf dem Herzen.
Ist was mit Sophie oder mit deinen Eltern?, fragte Felice.
Nein, aber mit Franz, sagte Max. Der wünsche, wieder knarrte ein Räuspern durch die Leitung, den Briefverkehr zu beenden.
Felice entfuhr ein lautes Lachen. Erst vor ein paar Tagen hatte Franz sich mit theatralischen Zeilen von ihr verabschiedet: »Sie dürfen mir nicht mehr schreiben, auch ich werde Ihnen nicht mehr schreiben. Ich müsste Sie durch mein Schreiben unglücklich machen und mir ist doch nicht zu helfen […] ich habe es ja vor meinem ersten Briefe klar gewusst und wenn ich mich trotzdem an Sie zu hängen versucht habe, so verdiente ich allerdings dafür verflucht zu werden, wenn ich es nicht eben schon wäre. […] Vergessen Sie rasch das Gespenst, das ich bin, und leben Sie fröhlich und ruhig wie früher.« Felice hatte diesen Brief zu den anderen gelegt und dem finalen Paukenschlag keine weitere Bedeutung beigemessen. Franz Kafka beherrschte die gesamte Partitur der Selbstanklage und des Dramatisierens. Der Mann, der seinen Mandanten von Berufs wegen tagtäglich weismachen musste, dass es für jedes Risiko eine Absicherung und für jedes Problem eine Lösung gab, stand vor allem sich selbst im Wege.
»Unmöglichkeiten auf allen Seiten!« Kafka litt unter dem Joch seiner Arbeit, krankhafter Geräuschempfindlichkeit, chronischen Magenproblemen, dem Gefühl des Verlorenseins und diagnostizierte sich eine »in sich selbst verliebte Hypochondrie.« Wahrlich kein Profil für ein gestandenes Mannsbild, doch Felice blieb gelassen; den Hörer in der Hand, versicherte sie Max, dass sie keineswegs vorhabe, den Kontakt abzubrechen, auch wenn sich Franz’ Briefe oft um sich selbst drehten, sodass Felice beim Lesen ein wenig schwindlig wurde. Das Denken der Gedanken war offenbar sein liebster Sport.
Ich weiß nicht, wieso das kommt, sprach sie ins Telefon, Franz schreibt mir ziemlich viel, aber es ergibt sich aus den Briefen kein rechter Sinn, ich weiß nicht, um was es sich handelt, wir sind einander nicht näher gekommen, und es ist keine Aussicht, vorläufig. Vorläufig, das betonte Felice, aber wir kennen uns ja noch gar nicht richtig.
Franz wusste es schließlich selbst: Briefe erzeugen keine Gegenwart, vielmehr einen Zwitter zwischen Gegenwart und Entfernung. Vier Monate war die Zufallsbegegnung bei Brods jetzt her, höchste Zeit, die Gegenwart aufzufrischen, ihr neues Leben einzuhauchen, bevor die Erinnerung an den Augustabend wieder verblasste.
Max Brod stimmte zu, ihr solltet euch wieder sehen, du tätest ihm gut. Er legte sich mächtig für seinen Freund ins Zeug, sprach entschuldigend über Franz’ übergroße Sensibilität, ja, ganz recht, sie stehe seinem Handeln manchmal im Wege. Und dabei schreibt er einen Roman, der alles Literarische, das ich kenne, in den Schatten stellt. Was könnte er leisten, wenn er frei und in guten Händen aufgehoben wäre! Ein so einzigartiger und wundervoller Mensch wie Franz verdiene es eben, anders behandelt zu werden als Millionen banaler Dutzendleute.
Aufs Urteil des klugen Max gab Felice viel. Vielleicht, dachte sie, kann ich dazu beitragen, dass eine Literatur in die Welt kommt, die größer ist als alles Voraufgegangene, auch wenn ich sie nicht verstehe. Ich muss sie auch gar nicht verstehen.
Seit wir uns Briefe schreiben, Franz und ich, sagte Felice zu Max und strich eine Haarsträhne glatt, die aus ihrer Steckfrisur ausgebrochen war, fühle ich mich so sichtbar.
Mit Ungeduld sehnte Felice den Feierabend herbei. Noch nie seit Beginn der Korrespondenz mit Franz hatte es sie so wie jetzt gedrängt, ihm zu schreiben. Das übliche Stimmengewirr aus der Telefonzentrale, ich verbinde, Fräulein Brühl kämpfte im Nebenzimmer leise fluchend mit einem verklemmten Schreibmaschinenhebel, Felices verdiente Mittagspause fiel aus, weil ein englischer Großkunde, den man nicht einfach hinauskomplimentieren konnte, sich ausführlich über den Parlografen informieren ließ und Fragen über Fragen zur Handhabung des neuen Geräts stellte. Automatische Aufzeichnung, erklärte Felice dem Engländer, dachte, dass Franz gerade jetzt in seiner Zerrissenheit einen Menschen brauchte, der für ihn da sein konnte. Ob man Spezialpapier für die Walze bräuchte, fragte der Kunde mit dem charmanten Akzent. Felice hatte sich anfangs so schwer getan, einen Briefwechsel mit dem Mann aus Prag zu beginnen; sie hatte den Weg zögerlich beschritten, nun aber war sie umso entschlossener, ihn bis zum Ende zu gehen. Ja, Spezialpapier, gab sie zur Auskunft, selbstverständlich auch bei uns erhältlich wie sämtliches Zubehör. Ob bei der Abnahme von fünf Parlografen ein Sonderpreis gewährt würde. Felice nickte. Ja, doch, Franz, jetzt erst recht! Gleich, wenn sie zu Hause wäre, würde sie ihm mit kühlem Kopf schreiben und seine überreizten Nerven beruhigen. Gegen alles ist ein Kraut gewachsen. Anscheinend wollte Franz den Briefwechsel bloß aus lauter Rücksicht beenden, weil er glaubte, Felice mit seinen gedanklichen Ausschweifungen zu überfordern, aber war sie bis jetzt nicht mit allem Möglichen fertig geworden? Jetzt hatte sie erst recht eine Aufgabe, sie musste den Zauderer an die Hand nehmen und ihn von seinen nagenden Zweifeln erlösen! Am Ende des Weges stand der Tempel, in den sie eintreten würden, um, masel tov, die Ehe einzugehen, die ihnen ein schönes, gerades Leben aufzeigen würde. 50 Prozent Zeitersparnis beim Diktat, dafür garantiert die Lindström AG. Okay, bestens. Der britische Kunde verabschiedete sich mit Handschlag.
Good bye Miss Bauer! Thank you very much!
Der Engländer war aus der Tür, Felice kam endlich dazu, ihr Mittagessen nachzuholen. Zu mehr als drei Riegeln Schokolade, die sie sich in den Mund steckte, fehlte ihr jedoch schon wieder die Zeit, denn Rosenbaum, der nette Mitarbeiter, kam mit einem Einschreiben gelaufen, das sie abzeichnen musste, und dann wurde sie erneut in die Telefonzentrale gerufen. Diesmal war es zum Glück nicht privat.
Noch einmal an diesem Tag, spätabends und schon halb im Bett, setzte Felice ihren Namen auf ein Blatt Papier. Das reibungslose Funktionieren des Parlografen versprach sie ihren Kunden zehnmal am Tag. Jetzt steckte sie einen Brief ins Kuvert, mit dem sie Franz Kafka ihrer bedingungslosen Zuneigung versicherte. »Wenn wir uns erst besser kennen«, schrieb sie, »werden unsere Worte füreinander nicht mehr so fremd klingen.« Es gibt nur Heilung von Mensch zu Mensch, so Franz’ eigene Worte, es war das Gebot der Stunde. Etliche Generationen vor ihnen hatten den Fehler begangen, wie zwei Fremde in die Ehe zu tappen. Bis heute war es gerade in jüdischen Kreisen üblich, dass die Eltern eine Ehe anbahnten und die Verkuppelten sich zum ersten Mal überhaupt im Tempel erblickten, wenn der Bräutigam den Schleier der Braut lüpfte. Kein Wunder, dass es da zu Verwerfungen kam wie bei Felices eigenen Eltern, diese ewigen Missverständnisse, die im Hause Bauer herrschten und vor denen Felice am liebsten die Augen verschloss.
Felice musste nicht lange auf eine Antwort warten. Prag schrieb postwendend: »Gott sei Dank! sage auch ich. Ich habe Sie also nicht verloren.« Felice beschlich der leise Verdacht, Kafka habe sie mit seinem Adieu nur auf die Probe stellen wollen. Ermutigt durch ihr Treuebekenntnis, sprang er von einem Satz zum nächsten vom Sie ins Du: »Ich antworte z. B. auf Ihren Brief und liege dann scheinbar still im Bett, aber ein Herzklopfen geht mir durch den Leib und weiß von nichts als von Ihnen. Wie ich Dir angehöre, es gibt wirklich keine andere Möglichkeit es auszudrücken und die ist zu schwach.« Felice verspürte eine Wallung, ein warmes Gefühl durchströmte ihren gesamten Körper bis in die Fingerspitzen, in denen Franz’ Brief leicht zitterte. »Ich bin noch knapp gesund für mich«, las sie weiter, »aber nicht mehr zur Ehe und schon gar nicht zur Vaterschaft.« Felice musste sich setzen. Der eiskalte Guss auf ihre erwärmten Gefühle trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Mal hü, mal hott, Franz warf Nebelkerzen. Doch die entscheidenden Begriffe waren im Spiel, das ließ sich nicht mehr leugnen, und das allein zählte. Was Franz mit Herzklopfen zu Papier brachte, waren eindeutig Liebesbriefe, auch wenn sie eine merkwürdige Verneinung ihrer selbst in sich bargen. Er schien sich über diesen Widerspruch allerdings genau im Klaren zu sein, denn er fragte Felice erneut, ob sie ihm bei all dem Irrsinn tatsächlich weiter schreiben wolle?
»Schmonzes«, beruhigte mütterlich Felice, »quäl Dich nicht immer so.«
Vermutlich war Franz’ Schwanken eine Art Masche, sie erst recht anzulocken, seine geradezu feminine Koketterie mit der eigenen Unzulänglichkeit konnte durchaus amüsant sein. Felice hatte sein Du erwidert, und schon hatte sie ihn wieder ganz für sich gewonnen.
»Du Liebste! Kann ich jetzt Deiner sicher sein? Das ›Sie‹, das gleitet wie auf Schlittschuhen, in der Lücke zwischen 2 Briefen kann es verschwunden