Kafka und Felice. Unda Hörner
in Begleitung ihrer Schwester Toni. Der Empfang begann mit Reden der beiden Lindström-Chefs Straus und Heinemann. Bereits im Jahre 1906, zogen sie selbstbewusst Bilanz, habe man auf die stolze Zahl von 150.000 verkauften Grammofonen schauen können. Auch die Weiterentwicklung der Klanggeräte durch einen beweglichen und zurückklappbaren Tonarm sei ein Verdienst der Lindström AG. Seit der Fusion mit Odeon habe man die Verkaufszahlen noch weiter steigern können und die Schallplatte ins Angebot aufgenommen. Herausragend auf dem Markt seien die unterschiedlichen Sprechmaschinen der Lindström AG, vor allem der Parlograf, das Flaggschiff unter den Lindström-Produkten. Die Angestellten wurden für ihr Engagement gelobt, Felice dankte den Vorgesetzten für die angenehmen Arbeitsbedingungen und die Kollegialität, die in der Firma herrsche. Applaus, Musik hob an, eine Schallplatte drehte sich auf dem Odeon-Grammofon, der muntere Schlittschuhwalzer.
Die Aufführung des Sketchs ging mit viel Gelächter über die Bühne, flott berlinernd gab Felice den Humor in Person, mit dem sie schlagfertig einen schwierigen Kunden zufriedenstellte, den der Kollege Rosenbaum spielte und der die absurdesten Fragen zu den Lindström-Produkten stellte. Ob der Parlograf auch moderne Schlager spielen könne? Ob es die schöne Verkäuferin gratis dazu gebe? Felice verdrehte die Augen, fertigte den Kunden alias Rosenbaum mit einem unterschriebenen Kaufvertrag über zehn Parlografen ab und freute sich demonstrativ über das gute Geschäft. Applaus, Gelächter, jemand aus dem Publikum fragte Felice nach der Darbietung, ob sie schon mal in München gewesen sei, da trete neuerdings ein beliebtes Komikerpaar auf, Karl Valentin und Liesl Karlstadt, an die erinnere der Auftritt, Kompliment! Felice und Toni ließen sich den Spaß an jenem Abend nicht nehmen. Sie tanzten Walzer und Polka mit Rosenbaum und dem Prokuristen Salomon, bis der letzte Ton verklang und sie mit einer Droschke von der Potsdamer Straße nach Hause fuhren zum Prenzlauer Berg. Am nächsten Morgen schmerzten Felice immer noch die Füße.
Eine geschlagene Woche war über den Festivitäten verstrichen, und Felice war Franz immer noch eine Antwort auf sein Ja zum Wiedersehen schuldig. Öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch, da lag wie ein Vorwurf das Briefpapier, lauter unbeschriebene, weiße Seiten. Endlich nahm sie die Feder zur Hand: »Weihnachten bleibe ich nun doch in Berlin.« Aber Franz, der könne ja reisen und nach Berlin kommen. Verwandtenbesuch hatte sich angekündigt, ein Haufen Einladungen war inzwischen ins Haus geflattert, wahrscheinlich würde man über die Feiertage von einer Gesellschaft zur nächsten fahren, auch eine weitere Tanzveranstaltung in einem der zahlreichen Ballsäle Berlins stand auf dem Programm sowie ein Termin beim Fotografen für ein aktuelles Familienporträt. Wenig einladende Aussichten für einen wie Franz, kam es Felice in den Sinn, als ihre Post mit einem dumpfen Geräusch ins Dunkel des nächsten Briefkastens fiel. Nein, Weihnachten wäre ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für ein erstes Wiedersehen. So sehr Felice sich wünschte, Franz die Grunewaldseen zu zeigen, auf denen Schlittschuhläufer ihre Pirouetten drehten, ihn der Familie vorzustellen, die sie schon lange mit neugierigen Fragen nach dem Herrn aus Prag löcherte, neben ihm über einem Orchestergraben zu sitzen und den Berliner Philharmonikern zu lauschen – größer als all diese Wünsche zusammen war Felices Angst vor dem Theater, das sie Franz vorspielen müsste, käme er tatsächlich nach Berlin. Jetzt rächte sich, dass sie in den vielen Briefen, die sie seit dem Spätsommer nach Prag geschickt hatte, inmitten harmloser Plaudereien über Berliner Tanzvergnügen und den revolutionären Parlografen, eine Mauer des Schweigens errichtet hatte. Denn Felice verheimlichte Franz ein Familiendrama.
Verschwörung der Frauen
Felices Schwester Erna war schwanger, im fünften Monat. Der Kindsvater, ein unsicherer Gesell, hatte sich aus der Affäre gezogen. Felice war die Einzige, der Erna sich in ihrer Zwangslage anvertraut hatte. Auf Felice war stets Verlass, früher schon, wenn man was angestellt hatte, holte sie die Kastanien aus dem Feuer. Felice half, wo immer sie konnte, flickte zerrissene Strümpfe, rettete bei Hausaufgaben, legte gute Worte bei Vater und Mutter ein. Aber ein uneheliches Kind, das war weiß Gott eine andere Größenordnung als eine schlechte Schulnote. Die beiden Schwestern kamen überein: kein Sterbenswort zu den Eltern. Auch vor dem Gerede der Leute musste Felice Erna schützen, nicht auszudenken, wie schief man sie ansähe als gefallenes Mädchen. Erna musste weg aus dem kleinen Ort Sebnitz bei Dresden, wo jeder jeden kannte. Das Kind woanders zur Welt bringen, eine Pflegefamilie finden, darum kreisten Felices schwere Gedanken. Das hieß, Erna musste ihre solide Sekretärinnenstelle bei einer Elektroinstallationsfirma kündigen und Felice für die Schwester finanziell in die Bresche springen.
Das Stakkato der Schreibmaschinenmusik verklang, die Kolleginnen wünschten einander wie immer einen schönen Feierabend, die Räume der Lindström AG leerten sich, doch Felices Arbeitstag war noch nicht zu Ende. Sie hatte sich vor Kurzem auf eine Kleinanzeige im Tageblatt gemeldet, da suchte jemand eine tüchtige Schreibkraft in Nebentätigkeit für die Abendstunden, das passte. Felice wurde bei einem Professor vorstellig, der schnell erkannte, welch hoch qualifizierte junge Frau er engagiert hatte. Dreimal die Woche wurde vereinbart, Felice konnte sofort anfangen. Während ihr der Professor mit sonorer Stimme naturwissenschaftliche Abhandlungen diktierte, von denen sie nur Bruchstücke kapierte, flogen ihre flinken Finger mechanisch über die Tastatur einer Remington. Kein Wunder, dass Felice der Sinn wenig nach Briefeschreiben stand, wenn sie am fortgeschrittenen Abend nach Hause kam, die Hand ins Kreuz gestützt wie eine alte Frau. Sie lehnte sich mit dem schmerzenden Rücken an den warmen Kamin, um sich etwas Linderung zu verschaffen, im Bett fielen ihr sofort die Augen zu. Als die Fakturistin bei Lindström krank wurde und Felice auch noch deren Arbeit übernehmen musste, bekam sie zu allem Überfluss Ärger mit der Mutter, die zeterte, als sei Felice auf krummen Pfaden unterwegs gewesen: Jetzt kommst du erst nach Hause? Weißt du eigentlich, wie spät es ist, Felice? Alle Handarbeiten bleiben liegen, soll ich etwa den Pullover für Ferri fertigstricken? Der gereizte Ton der Mutter war nicht zu überhören. Die selbstständige Tochter entzog sich ihrer Kontrolle, und dann auch noch diese Gestalt aus Prag, von der man nichts Genaues wusste. »Ihr letzter Brief ist so nervös«, schrieb Franz, »dass man das Verlangen bekommt, Ihre Hand einen Augenblick lang festzuhalten.«
Ja, gerade jetzt hätte Felice dringend einen Vertrauten in ihrer Nähe gebraucht, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Aber Händchenhalten war ein Kunststück zwischen Spree und Moldau, und was nutzte es schon, Franz mitzuteilen, dass sie gern Strindberg las, oder ihm Anekdoten der Bürokolleginnen zum Besten zu geben, wenn sie über das Wichtigste, was sie beschäftigte, über Ernas missliche Lage, schweigen musste wie ein Grab? Franz reinen Wein einschenken, viel zu riskant. Nicht auszudenken, wenn er mit seinem Antwortbrief in deutlichen Worten auf die derzeitige Situation einginge. Felice hatte ihre Mutter ja bereits dabei ertappt, wie sie unter dem Vorwand, nur eine Briefmarke zu suchen, neugierig in ihren privaten Papieren herumkramte, als sei ihr Schreibtisch ein offener Zeitungskiosk. Auch Toni war schon mal mit hochrotem Kopf aus Felices Zimmer hinausgeschlüpft, als die früher als erwartet nach Hause kam, weil der Professor ausfiel. Noch schlimmer wäre, wenn Franz’ Mutter Wind von der Sache bekäme und das Geheimnis der beiden Schwestern auf dem Umweg über Prag nach Berlin vordringen würde.
Unwahrscheinlich war das nicht. Erst vor ein paar Wochen, Mitte November, hatte wieder ein Brief aus Prag auf Felices Schreibtisch gelegen, doch die Schrift auf dem Kuvert war nicht die gewohnte. Felice riss den Brief auf, unterschrieben hatte Julie Kafka. Wie kam die Frau dazu, ihr zu schreiben?
»Ich habe durch Zufall einen an meinen Sohn adressierten Brief vom 12/11 datiert und mit Ihrer w. Unterschrift verseh’n zu Gesicht bekommen. Ihre Schreibweise gefiel mir so sehr dass ich den Brief zu Ende las, ohne zu bedenken, dass ich dazu nicht berechtigt war.« Felice versuchte sich zu erinnern, was sie an jenem 12. November an Franz geschrieben hatte, vielleicht vom bevorstehenden Firmenjubiläum, von einem Besuch beim Zahnarzt? Felice war erbost, man steckte seine Nase nicht in Briefe, die jemand anderem galten. Wie weitsichtig, kein Wort über Erna verloren zu haben! Trotzdem saß Felice beim Weiterlesen die Angst im Nacken, was wollte Julie Kafka, die sich so schmeichlerisch wand, bloß von ihr? Es ging, das stand nach wenigen Zeilen fest, um Franz: »Dass er sich in seinen Mußestunden mit Schreiben beschäftigt, weiß ich schon viele Jahre. Ich hielt dieß aber nur für einen Zeitvertreib. Auch dieß würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter.